Mâra Zâlîte | Das Gericht

Leseprobe: Seiten 55 bis 59





II. Aufzug

1. Szene


Das Zimmer neben dem Gerichtssaal. Reichgedeckter Tisch; sogleich werden die Gutsherren kommen, um sich zu erfrischen und einen Imbiß einzunehmen. Im Augenblick befindet sich nur MERKEL auf der Bühne; sein Gemütszustand ist erregt.

MERKEL
... sie vermögen auf keinerlei Weise, weder durch Geschicklichkeit noch durch den größten Eifer, selbst mit der allerhöchsten Rechtschaffenheit nicht, ihr Schicksal zu verändern und in bessere Kreise aufzusteigen – es ist nur allzu begreiflich, daß die Folge dieses Zustandes einzig und allein Gefühlsarmut und Stumpfheit des Geistes sein kann, Trägheit und feiges Niedersinken zu jeglicher Schlechtigkeit, die sich irgendwie bietet, Abscheu vor jeder Verstandestätigkeit und finsterster Aberglaube...

GUTSHERR A (der soeben eingetreten ist)
Sie sind noch immer an dieser Sache, mein Freund? Hören Sie auf! Hören Sie auf. Wenn Sie so viele Jahre wie ich auf dieser Erde verbracht haben, dann werden Sie begreifen, daß die Gesetzmäßigkeiten, die unser Leben bestimmen und beeinflußen, keineswegs vom einzelnen Menschen abhängig sind – weder von seinem Mut noch von seiner Feigheit, weder von hitzigen Reden noch von verständigem Schweigen. Unter uns gesagt – doch das bleibt bitte wirklich unter uns – in einigen Fragen bin ich durchaus Ihrer Meinung... in einigen Punkten! Daß sich die Verhältnisse in Lettland dereinst ändern müssen, streitet ja nicht einmal der Adel ab. Viele von uns sind mit allen Kräften bemüht, die Sympathie des Volkes durch Freundlichkeit und die Bekundung väterlicher Liebe zu gewinnen...

MERKEL
... und die Ketten unter Rosengirlanden zu verbergen!

GUTSHERR A
Herr Merkel, zu Ihrem eigenen Besten – ich bitte Sie, werden Sie vernünftig! Nicht alle Adligen sind solche Ungeheuer, wie Sie geruhten darzustellen, viele sind wahrhaft großmütig, und...

MERKEL
Großmut kann kein Staatsgesetz sein!

GUTSHERR A
... und einige Letten sind auch, man kann es nicht leugnen, rechtschaffene Leute. Leider jedoch fehlt ihnen jeglicher Stolz. Er fehlt ihnen in einem Maße, daß sie – und das ist in der Tat unangenehm – in einer Entfernung von dreißig Schritten die Mütze abziehen und zusammenschrumpfen – als Verbeugung kann man das unmöglich bezeichnen – wenn man sie mit seinem Blick auch nur gestriffen hat. Dann schleppen sie sich gesenkten Hauptes heran, um einem Rock oder Füße zu küssen... Wissen Sie, zuweilen empfinde ich einen regelrechten Widerwillen... Überhaupt sind die ausgeprägtesten Charaktereigenschaften des livländischen Bauern sklavische Furcht und Mißtrauen...

MERKEL
Diese sanftmütige Unterwürfigkeit, das friedfertige Schweigen unter den willkürlichen Schlägen wird von Ihnen, den Adligen, gründlich mißverstanden. Das ist keine stumpfe Resignation, sondern verborgene, unterdrückte Wut, ein bedenkliches Symptom der Verzweiflung, deren höchstmögliches Maß bald erreicht sein wird, sehr bald. Das Volk ist kein sklavisch unterwürfiger Hund mehr, der unter Schlägen an der Kette gehalten werden kann. Es ist ein Tiger, der in stummer Wut an dieser Kette nagt und voller Sehnsucht auf den Augenblick wartet, da er sie zerreißen und seine Schande mit Blut abwaschen kann!

Die GUTSHERREN B, C und D sind während dieser Worte eingetreten.

GUTSHERR B
Er ist ein Jakobiner! Räudiger Hund! Ein Feind der Gesellschaft!

GUTSHERR C
Sie haben den livländischen Adel verunglimpft! Welch Niedertracht!

GUTSHERR B
Sie glauben anscheinend, wir wüßten nicht, woher diese Winde wehen! Dieser Grünschnabel hat seine Nase zu tief in irgendwelche Traktätchen gesteckt! Wild zusammengewürfelte Ideen! Diderot! Rousseau! Raynald! Ra... Rad... Radischtschev oder wie er heißt, dieser Halbirre aus Rußland, nach dem sich alle Kerker sehnen! Radieschen! Ha!

GUTSHERR D
Die Adligen von Livland sollten zweitausend Taler aufbringen und Ihre Verurteilung zur Zwangsarbeit auf der Galeere erwirken!

MERKEL
Ich weiß, daß meine Ruhe und überhaupt alles, was ich verlieren kann, auf dem Spiele steht. Ich sehe kommen, daß man mir Boshaftigkeit, Verleumdung, und vielleicht sogar Verrat vorwerfen wird – aber wohlan, es sei!

GUTSHERR C
Ich möchte mit Ihnen nicht diskutieren – ich verachte Sie. Nur eines, Herrschaften, ist mir unbegreiflich, wie ein Deutscher, ein Mensch mit gesundem Verstand, für diese... niederträchtigen, verlogenen, diebischen Letten Partei ergreifen kann, für Wesen, die kein anderes Glück kennen, als sich mit heilem Rücken spreuiges Brot in den Hals zu stopfen...

MERKEL
Die Erzeuger des Getreides, die Ernährer anderer Stände sollten nicht nötig haben, spreuiges Brot zu essen... Und Glück... was wissen Sie über das Glück der Letten!

GUTSHERR C
... die keine andere Kühnheit besitzen, als zum Gutsherrn aufzuschauen, und keine andere Klugheit kennen, als sich bei einem Diebstahl nicht ertappen zu lassen!

MERKEL
Was wissen Sie über die Kühnheit der Letten!

GUTSHERR C
Nur am Sonntag viehisch betrunken zu sein, ist seine Sittlichkeit, nicht geschlagen zu werden seine Ehre, mit einem Wort: er ist ein... Wie können sie so etwas verteidigen? Wie nur? Wie? Sind Sie vielleicht wahnsinnig? Wie?

MERKEL
Der Lette ist so, wie ein Volk nur sein kann, an dem bereits seit sechs Jahrhunderten der Drachenzahn der Sklaverei zehrt. Doch ich hatte gehofft, daß Sie gerecht genug wären, nicht den verstümmelten Charakter, sondern die Ursachen für diese Verstümmelung zu hassen. O mein geliebtes Vaterland! Einst wirst du glücklichere Tage sehen, doch deren Boten werden fürchterliche Stürme sein! Wann endlich bricht der Tag an, da die Felder dieses Landes ihren Segen nicht mehr über blasse, zitternde, lastenschleppende Tiere ausschütten, sondern über Menschen, freie, glückliche Menschen?

GUTSHERR A
Genug! Herr Merkel, ich sehe mich gezwungen, Ihren unbeherrschten Charakter und jene merkwürdigen Gedanken, die Sie geäußert haben, in meinem Bericht über den Gerichtsverlauf zu erwähnen. Ihre Unbesonnenheit kann Sie teuer zu stehen kommen. Doch nun, Herrschaften, stärken Sie sich, da Gott es gegeben hat... schließlich haben wir noch die Urteile zu verkünden.

MERKEL
So richtet! Ich mag mich geirrt haben, doch vorsätzlich ging ich nicht fehl!

GUTSHERR A
Es geht doch gar nicht um Sie, Herr Merkel...






Die Aufführungsrechte liegen beim Kaiserverlag (Wien)

 

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