Die lettische Prosa des 20. Jahrhunderts

Von Ausma Cimdiòa



Unter Literaturwissenschaftlern ist die Auffassung recht verbreitet, daß in der lettischen Literatur seit ihren Anfängen eine Dominanz des poetischen Genres bzw. der Dichtung zu verzeichnen ist. Vor einigen Jahren nun, Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre, stellte sich eine „Epoche der Prosa” ein; der dynamische literarische Prozeß und die entsprechende aktuelle Diskussion bewegen sich insbesondere seit diesem Zeitpunkt hauptsächlich um die Prosa, genauer gesagt die sogenannte intellektuelle Kurzprosa, die u.a. die Vorstellungen darüber, was Literatur sei, radikal verändern will.

Der Schriftsteller und das Wort; die Freiheit des Wortes; Wortkunst; das Vermögen (oder Unvermögen) der Literatur, die soziale Realität zu beeinflußen und zu verändern: hinsichtlich dieser Fragen befindet sich die lettische Literatur heutzutage in einer Position, die den Zielen und Tendenzen, dem Selbstverständnis der Literatur der frühen nationalen Romantik diametral entgegengesetzt ist. Damals versuchte Juris Alunâns (1832-1864) mit seinen »Dziesmiòas« (Liedchen bzw. Gesänge, 1856), einer Sammlung aus dem Deutschen, Russischen und den Sprachen anderer literarisch entwickelter Völker übersetzter Gedichte, „aufzuzeigen, wie kraftvoll und schön die lettische Sprache ist”. Er wollte beweisen, daß die in den Sprachen der kulturell entwickelten Völker Europas dargelegten Gedanken und Gefühle adäquat auch auf Lettisch ausgedrückt werden können.

Die lettische Literatur hat nun eine Phase ihrer Entwicklung abgeschlossen und auf einer gewissen Stufe eine Blüte erreicht – zugleich jedoch den für das erste Erwachen charakteristischen jugendlichen Optimismus hinsichtlich der Kraft und Möglichkeiten des Wortes verloren. Das Bewußtsein, daß Worte und Sprache nicht Garant sind für die Wahrhaftigkeit, die Einsicht, daß im Namen der Wahrheit – bewußt oder unbewußt – oft gelogen wurde: dieses Bewußtsein der Ohnmacht des erschöpften Wortes ist es, mit dem die zeitgenössische moderne lettische Prosa und Lyrik sich auf die Suche nach neuen Wegen begibt.


Werfen wir einen Blick auf die Entwicklung der lettischen Prosa während der letzten hundert Jahre. Bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts wurden etwa dreißig auf Lettisch verfaßte Romane publiziert; der erste von ihnen, »Mçrnieku laiki« (Die Zeiten der Landvermesser), geschrieben von den als Landschullehrern tätigen Gebrüdern Reinis (1839-1920) und Matîss Kaudzîte (1848-1926), erschien 1879 und ist zugleich eines der bedeutendsten Werke der lettischen Literatur überhaupt. Stets Bestandteil des Lehrplans – auch während der sowjetischen Okkupation Lettlands –, mehrfach verfilmt und dramatisiert, hat es bisher sechszehn Auflagen erlebt und findet sich heute in jeder durchschnittlichen lettischen Hausbibliothek. Diese andauernde Popularität ist einerseits durch die einfühlsame Sicht auf das Leben zu erklären, andererseits auch durch die solide (wenn auch nicht besonders umfassende) literarische Schule. Die Gebrüder Kaudzîte wurden sowohl von Cervantes als auch von Gogol geprägt und verfügten über hervorragende Bibelkenntnisse. Es ist bezeichnend, daß die lettischen Bauern in »Mçrnieku laiki« oft anhand von Bibelgleichnissen – unter Verwendung einer entsprechenden Lexik und Phraseologie – miteinander kommunizieren. Bereits kurz nach seinem Erscheinen wurden Übersetzungen des Romans ins Russische und Deutsche in Zeitschriften publiziert; Anfang des 20. Jahrhunderts erschienen Übersetzungen ins Litauische, Estnische und in andere Sprachen.

In dem über 420 Seiten umfassenden Werk finden sich Elemente des Geschichts-, Sozial-, Alltags-, Abenteuer- und Kriminalromans. Es schildert das lettische Landleben in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts, als im Zuge der Bodenreform und der Aufhebung der Leibeigenschaft die Wertvorstellungen vielfältiger wurden und Kategorien wie Geld und Eigentum zunehmende Bedeutung im Leben der Menschen gewannen. Die Gebrüder Kaudzîte führen eine umfangreiche Galerie unterschiedlicher sozialer Typen vor, wobei sich ihnen der Mensch gerade durch sein Verhältnis zu den materiellen Gütern offenbart.

Der Titel des Romans weckt Assoziationen zu analogen Prozessen im heutigen Lettland/Baltikum/Osteuropa; ein zeitgenössischer lettischer Roman, der das Motiv der »Mçrnieku laiki« aufgreift, wurde jedoch noch nicht geschrieben bzw. veröffentlicht. Die neue Realität Lettlands schlägt sich nur sehr zaghaft im künstlerischen Roman nieder, obgleich die Schriftsteller von der konzeptuellen Kritik dazu ermuntert wurden.


Spricht man über jene Meister der lettischer Prosa der ersten Stunde, die einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen haben, so darf
Rûdolfs Blaumanis (1863-1908) nicht unerwähnt bleiben. Er war der Begründer der lettischen psychologischen Novelle und des realistischen Dramas; sein Hauptwirken fällt in das letzte Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts. Blaumanis’ gesammelte Werke erleben derzeit ihre sechste Auflage, zuvor wurden sie sowohl in den zwanziger Jahren im unabhängigen als auch später im sowjetisch besetzten Lettland sowie in den USA von Exilletten herausgegeben.

Vor Blaumanis dominierte der äußere Konflikt, der sozial determinierte Mensch in der lettischen Literatur. Blaumanis war von dem Menschen als Individuum fasziniert, von seiner Psychologie, seinem Charakter, seinen Widersprüchen, seinem Kampf mit sich selbst. Verstand und Intuition, Leidenschaft und Pflicht bzw. Sachzwänge bilden das Spannungsfeld, in dem sich die Protagonisten Blaumanis’ auf ihrer Suche nach Wahrheit und menschlichem Glück unablässig bewegen.


In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, vor allem während der Jahre der unabhängigen lettischen Republik, erweiterten sich die literarischen Kontakte mit den westeuropäischen Staaten, und neben deutschen und russischen Autoren wurden zahlreiche klassische Werke der französischen, spanischen, skandinavischen sowie der litauischen und estnischen Prosa übersetzt. Dies wirkte als ein kräftiger Impuls in der Entwicklung der lettischen Literatur, und bereits in den zwanziger und dreißiger Jahren hatte der lettische Roman ein verhältnismäßig breites Spektrum an Genres herausgebildet, wobei mit verschiedenen neuen Ausdrucksformen experimentiert wurde. Parallel zum Realismus gab es eine impressionistische Strömung, eine mythische Poetik, und schon in den dreißiger Jahren entstand unter dem Einfluß von James Joyce mit »Dienas krusts« (Das Kreuz des Tages, 1931) von Jânis Veselis (1896-1962) der erste Roman der Bewußtseinskunst in der lettischen Literatur.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der natürliche literarische Prozeß gewaltsam unterbrochen. Besonders schwer waren die Folgen für die Entwicklung des Romans, dessen literarische Form ein Denken in ursächlichen Zusammenhängen sowie eine Reflexion der Probleme des menschlichen Daseins in einem umfassenden sozialen und historischen Kontext erforderlich macht. Während der Jahre der sowjetischen Okkupation entwickelte sich die lettische Literatur am erfolgreichsten in der Emigration, insbesondere in Deutschland, Schweden, den USA und Australien. Als eine der bedeutsamsten Entwicklungen gegen Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre sei hier die Annäherung der beiden künstlich voneinander getrennten und fast ein halbes Jahrhundert lang aus ideologischen Gründen einander entfremdeten Literaturströmungen – der Exilliteratur und der in Lettland verbliebenen – genannt. Die Begegnung mit der Realität der Heimat (bzw. der Heimat der Eltern oder entfernterer Vorfahren) stellte für viele in der Emigration aufgewachsene Schriftsteller einen wichtigen Impuls für ihr Schaffen dar.


Für die Modernisierung des lettischen Romans im Kontext der gesamtsowjetischen Prosa ist
Alberts Bels (*1938) als überaus bedeutsam zu nennen. Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre erneuerte er den zu jener Zeit seit über dreißig Jahren unterbrochenen Bewußtseinsstrom, indem er unter Verwendung entsprechender Stilmittel einen Kriminalroman (»Izmeklçtâjs« / Der Ermittler, 1967), einen Alltagsroman (»Bûris« / Der Käfig, 1972) und einen historischen Roman (»Saucçja balss« / Die Stimme des Rufers, 1973) schrieb. Wie unglaublich es heute auch klingen mag: Unter den Argusaugen der Sowjetherrschaft ist auch der erste postmoderne lettische Roman entstanden: »Viltotais Fausts jeb Pârlabota un papildinâta pavârgrâmata« (Der falsche Faust oder Das verbesserte und erweiterte Kochbuch, 1973) von Marìeris Zariòð (1910-1993).


Obgleich die lettische Literaturkritik zur Zeit der Sowjetherrschaft im Prinzip die Funktion der Zensur übernommen und versucht hatte, die Literatur auf dem ästhetischen Niveau des sozialistischen Realismus niederzuhalten, so haben sich die Schriftsteller der ersten Garde dennoch mit der Selbstreflektion der Literatur befaßt und literaturtheoretische Motive sowie Themen, die das künstlerische Schaffen behandeln, in ihre Werke einfließen lassen. Als bedeutsame Werke seien hier die beiden ersten Romane der ursprünglich geplanten Tetralogie »Pati ar savu vçju« (Allein mit meinem Wind) von
Regîna Ezera (1930-2002) genannt: »Varmâcîba« (Gewalt, 1982) und »Nodevîba« (Verrat, 1984). Um einen intensiven Dialog mit dem potentiellen Leser aufrechtzuerhalten und ihn zu einer Umorientierung hinsichtlich der Literaturtheorie zu ermuntern, zeichnet Ezera ein äußerst farbenreiches (Selbst-)Porträt der eindeutig weiblichen Autorin bzw. Ich-Erzählerin – mit allen sich daraus für die sowjetische Lebensrealität ergebenden Konsequenzen. Der Alltag als Bestandteil des kreativen Prozesses, das „Filtern” der Realität, um sie ins Kunstwerk einfließen zu lassen: dies sind Fragen, über die die Schriftstellerin den Leser nachdenken läßt.

Ich schreibe ein seltsames Zwitterwesen hinsichtlich des Genres, irgendetwas zwischen Reportage und Beichte, Belletristik und Publizistik, halb Monolog, halb Mosaik, zum Teil dokumentativ, zum Teil phantastisch, persönlich und entfremdet zugleich.

Diese Definition ist nicht nur auf Regîna Ezeras Schreibweise zu beziehen, sondern charakterisiert Prozesse, die für die lettische Prosa der siebziger und achtziger Jahre insgesamt kennzeichnend sind: Genreinterferenzen, Synthese- und Diffusionsprozesse, das Verwischen der Genregrenzen überhaupt.

Tiefbegründete Gegenentwürfe zu Natur- und Kulturtraditionen, die am schmerzhaftesten (und deshalb vielleicht derzeit am produktivsten) in der Frau aufeinandertreffen, beschäftigen auch die exillettische Schriftstellerin Ilze Ðíipsna (1928-1981). In der Erzählung »Ex Feminae Tempore« (1963, USA) umschreibt sie sich selbst:

Ich werde nicht schreiben, werde nicht schreiben, nicht schreiben. Ich werde singen, musizieren, tanzen; schreiben werde ich nicht...

- und dennoch schreibt sie.


Eine der produktivsten Schriftstellerinnen der Gegenwart ist
Gundega Repðe (*1960). Seit Erscheinen ihres ersten Erzählbandes »Koncerts maniem draugiem pelnu kastç« (Konzert für meine Freunde im Aschekasten, 1987) hat sie in dichter Folge Bücher mit verheißungsvollen Titeln veröffentlicht: »Ugunszîme« (Das Brandmal, 1988), »Pieskarieni« (Berührungen, 1988), »Tuvplâni« (Nahaufnahmen, 1989), »Septiòi stâsti par mîlu« (Sieben Geschichten über die Liebe, 1992), »Ðolaiku bestiârijs« (Zeitgenössisches Bestiarum, 1994), »Çnu apokrifs« (Schattenapokryph, 1996; deutsch erschienen unter dem Titel Unsichtbare Schatten, 1998), »Sarkans« (Rot, 1999), »Îkstîte« (Däumelinchen, 2000) und »Sieviete miglâ« (Die Frau im Nebel, 2001). Intellekt, Sensibilität, Sprachpoesie sind die ersten Schlagworte, die Repðes Prosa umschreiben mögen. Ihre Werke sind auf der Gestalt- und Motivebene reich an Zitaten sowohl aus der lettischen Klassik als auch aus den Literaturen anderer Völker; gleichzeitig zeichnet sie sich durch Offenheit gegenüber der gegenwärtigen sozialen Realität aus, und ihre »Unsichtbaren Schatten« geben Anlaß, dieses Werk als Sozialroman zu charakterisieren.

Gundega Repðe hat das Interview als literarische Form wiederbelebt, die die Tendenzen des Schaffens und die Weltanschauungen zeitgenössischer Schriftsteller offenbart – gerade dank ihrer Gespräche, die in führenden lettischen Zeitungen und Zeitschriften sowie als Buch (»Gadsimta skatiens« / Der Blick auf das Jahrhundert, 1999) erschienen sind, wurde das Anfang der neunziger Jahre zwischen den Vertretern der neuen, postmodernen Prosaströmung und der traditionsverbundenen lettischen Leserschaft (für die ein solider Realismus das Haupterkennungsmerkmal guter Literatur ist) herrschende Unverständnis in Ansätzen überwunden bzw. in Bahnen gegenseitiger Akzeptanz geleitet. Als Kritikerin sympathisiert sie mit der „neuen Strömung”, die gemeinhin als „Postmoderne” bezeichnet wird.


Der Übergang der achtziger zu den neunziger Jahren stellt sich demnach auch als Phase des Konflikts zwischen den „Realisten” und den „Anti-Realisten” bzw. „Postmodernen” dar. In dieser Hinsicht am bedeutsamsten ist ein Werk von Aivars Ozoliòð (*1957) mit dem abstrakten Titel »Dukts« – im Prinzip eine Enzyklopädie der Poetik der Postmoderne. Als Folge der Eindrücklichkeit dieses Textes haben Begriffe wie ,Dukts’, ,Duktologie’ oder ,Duktismus’ begonnen, auch außerhalb direkter Beziehungen zu dem Buch zu existieren bzw. als Symbol für die Postmoderne in der lokalen lettischen Version zu stehen. ,Dukts’ ist sowohl der Titel der Geschichte als auch ihr Held, sowohl eine Gattungsbezeichnung als auch Ausdruck duktologischer Theorie und Praxis. Der Text beginnt einem Komma (das 8. Kapitel ist das erste, die Kapitel 1 bis 7 sind ausgelassen):

8.
, denn wenn auch die banale Wirklichkeit in erster Linie deshalb banal ist, weil sie die Wirklichkeit ist, und ein einziger Tropfen irgendwann möglicherweise tatsächlich einen ganzen Ozean ersetzen kann (wenngleich auch der echte Punkt auf dem i, wie es scheint, ein Punkt irgendwo in der Mitte dieses i ist), […]

Dieser Satz hat weder Anfang noch Ende, er setzt sich über acht Seiten fort und endet mit einem Gedankenstrich.

»Dukts« ist nicht nur innerhalb der zeitgenössischen, sondern innerhalb der gesamten lettischen Literatur ein besonderes Buch. In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts gelang es nicht, die lettische Literatur mit dem ,Bazillus der Moderne zu infizieren, und nach dem Zweiten Weltkrieg verhinderte die sowjetische Diktatur den organischen Zusammenfluß mit den modernen literarischen Strömungen Europas. »Dukts« läßt sich nicht anhand einzelner Versatzstücke entschlüsseln; der Text verwischt absichtlich die Spuren, indem er ständig die gerade dargelegten Gedanken anzweifelt und demontiert. Zugleich parodiert das Werk das Prinzip der Mythologisierung (bzw. die gedanklich-ästhetische Konstruktion von Mythen) sowie die Methoden humanwissenschaftlicher Forschung, die die geistig-schöpferische Sphäre den Gesetzen der Kausalität unterwerfen will – denen sich jene doch beständig entziehen –, indem der Autor seinen Text mit Fußnoten versieht, die auf wissenschaftliche Werke verweisen, welche entweder gar nicht existieren oder aber in keinem direkten Zusammenhang mit den aufgeworfenen Thesen stehen. Einige Kapitel sind in der Manier eines imitierten Realismus gehalten; für denjenigen, der es verstehen und akzeptieren will, ist laut »Dukts« der Realismus als Kunstmethode und Spiegel der objektiven bzw. historischen Wahrheit demaskiert, „abgeschrieben” und „vernichtet”: »Dukts« ächtet den geistig trägen Leser, der jedes Wort glaubt und einer Pseudoautorität gegenüber seinem gesunden Menschenverstand den Vorzug gibt. Es handelt sich um ein intellektuell glänzend konstruiertes Werk, das auch im sprachlichen Ausdruck bewundernswert organisch gestaltet ist. Als einer der aufmerksamsten und schärfsten Kommentatoren der führenden lettischen Tageszeitung Diena ist Aivars Ozoliòð mit der gegenwärtigen sozialpolitischen Situation Lettlands bestens vertraut, ohne allerdings seit dem Erscheinen von »Dukts« im Jahre 1990 weitere belletristische Werke geschrieben bzw. veröffentlicht zu haben.


Als ein Beispiel für im Exil entstandene lettische Literatur sei der Roman mit dem pikanten Titel »Kuòas dçls« (Hundesohn bzw. „Son of a bitch”, 1994) von Juris Rozîtis (*1951) erwähnt, der Preisträger des Karogs-Romanwettbewerbs 1995. Die Geschichte basiert auf einem wenig bekannten lettischen Märchen, dessen Protagonisten jenen Helden der lettischen Mythologie begegnen, die schon früher Eingang in literarische Texte gefunden haben. Die Verknüpfung von Mythos und Lebensrealität bzw. die Entmythologisierung ist eines der Hauptmotive des Romans; zudem sind hier Mythen der Exilletten und des sowjetischen Lettland verwoben. Ein weiteres Merkmal ist das Verhältnis gegenüber der Sprache, der sprachlichen Expression, die durch eine Reduktion von Stilistik und Lexik erreicht wird, was die Kritik zu der Bemerkung veranlaßte, daß der Roman, würde er anhand der Normen literarischer Sprachlichkeit ,sterilisiert’, nicht mehr existieren würde. Und schließlich handelt es sich um eine Studie lettischer Lebensauffassung und Mentalität im Verhältnis zum Allgemeinmenschlichen, einen Vergleich zwischen modernen Lebensstandards und der Tugend und Lebensweisheit der Vorväter. Dennoch ist »Kuòas dçls« zum einen zu philosophisch, um auf größere Resonanz bei der nicht professionell mit Literatur befaßten Leserschaft zu stoßen, zum anderen zu sehr spezifisch lettisch, um seine Übersetzung in eine der europäischen Literatursprachen als sinnvoll erscheinen zu lassen.


Neben der avantgardistischen Strömung besteht weiterhin auch die traditionelle Prosaschule, die sich einer größeren Resonanz beim Publikum erfreut. Auf diesem literarischen Feld werden tiefe und schmerzliche alltägliche historische Erfahrungen behandelt, über die während der sowjetischen Zeit geschwiegen werden mußte. Tatsächlich wurde die Geschichte des ganzen 20. Jahrhunderts (angefangen vom Ersten Weltkrieg und der Gründung der Republik Lettland) und insbesondere die des Zweiten Weltkrieges während der Herrschaft der Sowjets in Lettland bewußt verfälscht. Erste Versuche, „die Zeit anzuhalten” und einen Blick auf das Lettland des Zweiten Weltkrieges zu werfen, fielen bereits in die fünfziger Jahre, wurden jedoch von der sowjetischen Zensur unterdrückt. Zu nennen wäre hier beispielsweise Visvaldis Lâms’ (1923-1992) Roman »Kâvu blâzma« (Nordlicht, 1957), dessen Veröffentlichung unterbunden wurde und der ein langjähriges Publikationsverbot für den Autor zur Folge hatte. Als Buch erschien »Kâvu blâzma« erst 1989.


Auch unausgesprochen haben diese Erfahrungen dennoch ein halbes Jahrhundert lang am Bewußtsein des Volkes genagt, und jetzt drängt die lange verschwiegene Wahrheit mit ungeheurer emotionaler Kraft in die Werke der Schriftsteller der älteren Generation. Besonders produktiv sind hierbei sogenannte nichtprofessionelle Schriftsteller(innen); eröffnet hat diese Serie der dokumentarische Roman »Ekshumâcija« (Die Exhumierung, 1990) von Anita Liepa (*1928), dessen Prinzip bei einer traditionellen literarischen Form die inhaltliche Wahrhaftigkeit ist, die sich auf die Geschichte, die eigenen Erfahrungen der Autorin bzw. ihrer Angehörigen stützt. Das Leben von konkreten Menschen wird hier beschrieben; es ist ein dokumentativer, um Fotografien der Protagonisten ergänzter Bericht über das Schicksal zweier Brüder, die einander während des Krieges als Soldaten auf beiden Seiten der Front gegenüberstehen, ohne allerdings ihr Ende auf dem Schlachtfeld zu finden: beide werden von den jeweiligen Regimes verurteilt, der eine wird erschossen, der andere verhungert in Sibirien. Die Lage des Territoriums Lettlands im Bereich deutscher und russischer Interessensphären, die Folgen des Konfliktes dieser beiden Großmächte für das Schicksal des lettischen Volkes sind in »Ekshumâcija« nicht trockene Historie, sondern lebendige Geschichte.


Von den sogenannten professionellen Schriftstellern hat sich zu dem Thema der „verbotenen Historie”
Vizma Belðevica (1931-2005) mit der zweibändigen Geschichte ihrer Kindheit besonders erfolgreich und beachtenswert geäußert: »Bille« (Bille, 1992) beschreibt auf literarische Weise das alltägliche Leben in der Republik Lettland während der dreißiger Jahre; in »Bille dzîvo tâlâk« (Bille wird älter, 1996) wird besonders die Periode des Zweiten Weltkrieges aus der Sicht einer Heranwachsenden geschildert. Der unmittelbare, naive Blick eines Kindes auf die Ereignisse – ohne die Hintergründe und Ideologien imperialer Mächte zu berühren – vermittelt einen überraschenden Eindruck; gleichzeitig ist die von Bille geschaute Wirklichkeit plastischer und vielschichtiger als beispielsweise die in »Ekshumâcija« dokumentarisch untermauerte Realität. Gerade an dieser menschlichen, schlichten Sichtweise mangelte es unserer Literatur bislang oft; daß sie auch für ein europäisches Publikum interessant ist, beweist der Erfolg der Übersetzung von »Bille« ins Schwedische.


Eine treffende Metaphorisierung der jüngsten Umbruchzeit Lettlands (und des gesamten Baltikums) ist der Roman »Robeþpârkâpçjs« (Der Grenzverletzer bzw. –übertreter, 1989) von Aivars Tarvids (*1957), der noch vor der Unabhängigkeitserklärung der Republik Lettland im Mai 1990 erschienen ist und die „neue Realität” Lettlands erstaunlich hellsichtig erahnte und erahnen ließ. Die Überladenheit dieser Zeit an Spannungen und Informationen, die Ungewißheit der Zukunft kulminiert im Bewußtsein des Protagonisten der Geschichte, des jungen und begabten Chirurgen Arnold. Er hat sich ein Visum zur Ausreise aus der UdSSR beschafft und ist nun gemeinsam mit der gutsituierten jungen Jüdin Sophia auf dem Weg in den Westen, um dort ein neues Leben zu beginnen. Der Handlungsraum ist extrem begrenzt: wir befinden uns im Zug während der einige Tage dauernden Eisenbahnfahrt in Richtung Westen. Über das, was sich in Sophias Innerem abspielt, schweigt der Roman; er ist als Untersuchung des Existenzmodells angelegt, welches Arnold hinter sich läßt. Die innere Handlung ist maßgebend in dem Roman, der Strom von Arnolds sensiblem, aufnahmefähigen Bewußtsein, in das unzählige, flüchtige Alltagssituationen des Ostens brechen, Fragmente der Beziehungen zu den in Lettland zurückgebliebenen Nächsten, verschiedene demogra­phische, berufliche, ethnische und sozialpolitische Reflexionen, historische Visionen bezüglich des „Freien Lettland” und der Beziehungen zu den Imperien usw. Wiewohl er den Naturalismus seiner alten Existenz – der poetisch glänzend in die Lexik und Arbeitspraxis des Chirurgen eingeflochten ist – auch gründlich satt hat, hat er doch zugleich auch Bedenken, die „sterile Luft der westlichen Zivilisation einzuatmen”. In dem Begriff „Grenzverletzer” drücken sich die Illegalität und Instabilität von Arnolds gegenwärtiger Lage aus. Der Titel weckt Assoziationen zu dem einige Jahre später erschienenen Roman »Grenzgebiet« des Esten Emil Tode; beide Werke sind hinsichtlich ihrer Problemstellung und Weltsicht verwandt.

Bearbeitung und Übersetzung aus dem Lettischen: Matthias Knoll


© M. Knoll
Erschienen in: Handbuch Baltikum heute
[Berlin: Berlin Verlag / Arno Spitz GmbH, 1998]
Gesamtumfang: 22.979 Zeichen / 12 Normseiten | Frei zur Verwertung

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