Kinder
Wolfgang Knoll

[S. 75-89]

Von den judenfeindlichen Maßnahmen der Nationalsozialisten waren jüdische Kinder stets mitbetroffen. Sie erlebten Ausgrenzung, Anfeindungen und auch offene Gewalt in Form von Übergriffen der Hitlerjugend.
    Von 1933 an schränkten die Nationalsozialisten die Bildungschancen jüdischer Kinder und Heranwachsender ein. Im Gesetz gegen die Überfüllung deutscher Schulen und Hochschulen vom 25. April 19331 wurde ein Numerus clausus im Hinblick auf »Nichtarier« verordnet. Der Prozentsatz von Juden an Schulen und Hochschulen durfte den Prozentsatz der Juden innerhalb der Gesamtbevölkerung nicht übersteigen und an allgemeinbildenden Schulen höch­stens fünf, an höheren und Hochschulen höchstens anderthalb Prozent betragen. Ausge­nommen von dieser Quotenregelung waren nur die Kinder von Frontkämpfern des Ersten Weltkriegs und die »Mischlinge«. Juden erhielten keine Stipendien und konnten seit 1937 nicht mehr promovieren; von den Schul- und Hochschulgebühren durften sie nicht befreit werden. Einige Studiengänge waren ihnen ganz verschlossen.
    Die Verarmung der Eltern traf auch die Kinder. Zum 1. Februar 1938 strich man Juden den Kinderfreibetrag. In einer Besprechung mit den Vorstehern der Finanzämter des Oberfinanz­präsidenten Berlin, betreffend die Anwendung des Gesetzes zur Änderung des Einkommen­steuergesetzes vom 1. Februar äußerte am 5. April 1938 Regierungsrat Dr. Bacciocco:

Eine wesentliche Neuerung ist zunächst der Wegfall der Ermäßigung für Kinder, die Juden sind. […] Diese Maßnahme entspricht den rassepolitischen Grundsätzen des National­sozialismus und dem rassischen Empfinden des Deutschen Volkes. Insbesondere führte nachstehende Erwägung zu dem Erlaß dieser Vorschrift: Die erhöhte Steuerbelastung, welche die Einkommensteuerreform 1934 für ledige Steuerpflichtige zu Gunsten der kinderreichen Familien gebracht hat, kam allen kinderreichen Steuerpflichtigen zugute, also auch den Steuerpflichtigen mit jüdischen Kindern. Mittelbar wurde demnach auch die Geburt jüdischer Kinder dadurch gefördert, was natürlich nicht mehr tragbar war. […]2

Seit dem Spätsommer 1938 durften jüdische Eltern ihren neugeborenen Kindern nur noch jüdische Vornamen geben. In der Zweiten Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über die Änderung von Familien- und Vornamen vom 17. August 1938 heißt es:

§ 1 (1) Juden dürfen nur solche Vornamen beigelegt werden, die in den vom Reichs­minister des Innern herausgegebenen Richtlinien über die Führung von Vornamen aufgeführt sind.
§ 2 (1) Soweit Juden andere Vornamen führen, als sie nach § 1 Juden beigelegt werden dürfen, müssen sie vom 1. Januar 1939 ab zusätzlich einen weiteren Vornamen annehmen, und zwar männliche Personen den Vornamen Israel, weibliche Personen den Vornamen Sara.3

Folgende Pressenotiz erschien wenige Tage nach dem Novemberpogrom 1938:

Keine Juden mehr in deutschen Schulen
DNB Berlin, 14. Nov.

Nach der ruchlosen Mordtat von Paris kann es keinem deutschen Lehrer und keiner deutschen Lehrerin mehr zugemutet werden, an jüdische Schulkinder Unterricht zu erteilen. Auch versteht es sich von selbst, daß es für deutsche Schüler und Schülerinnen unerträglich ist, mit Juden in einem Klassenraum zu sitzen.
    Die Rassentrennung im Schulwesen ist zwar in den letzten Jahren im allgemeinen bereits durchgeführt, doch ist ein Restbestand jüdischer Schüler auf den deutschen Schulen übriggeblieben, dem der gemeinsame Schulbesuch mit deutschen Jungen und Mädeln nunmehr nicht weiter gestattet werden kann. Vorbehaltlich weiterer gesetzlicher Regelung hat daher Reichserziehungsminister Rust mit sofortiger Wirkung folgende Anordnung erlassen:

1. Juden ist der Besuch deutscher Schulen nicht gestattet. Sie dürfen nur jüdische Schulen besuchen. Soweit es noch nicht geschehen sein sollte, sind alle zur Zeit eine deutsche Schule besuchenden jüdischen Schüler und Schülerinnen sofort zu entlassen.
2. Wer jüdisch ist, bestimmt § 5 der Ersten Verordnung vom 14. 11. 1935 zum Reichs­bürgergesetz.
3. Diese Regelung erstreckt sich auf alle mir unterstellten Schulen einschließlich der Pflichtschulen.

Dieser Anordnung leisteten die Schulleitungen aller öffentlichen deutschen Schulen bereitwillig Folge. Alle als Juden geltenden Kinder wurden von den öffentlichen Schulen relegiert – ein gravie­render Knick in der Bildungsbiographie dieser Kinder. Abhilfe zu schaffen war nicht leicht. In aller Eile baute man das jüdische Schulwesen aus und funktionierte Privatvillen in jüdische Schulen um.4 Erstmals lernten die Kinder Hebräisch und Palästinakunde, und viele von ihnen entwickelten erst jetzt eine jüdische Identität. Berufliche Perspektiven hatten die jüdischen Schülerinnen und Schüler kaum, und Universitäten waren Juden nun gänzlich verschlossen.

Um ihren Kindern eine angemessene Bildung und eine menschenwürdige Zukunft zu ermög­lichen, entschlossen sich viele jüdische Eltern, ihre Kinder allein auf die Reise in ein fernes Land zu schicken – nach Palästina, nach Großbritannien oder nach Holland. Sie verhielten sich damit ungewollt ganz im Sinne der nationalsozialistischen Machthaber. Im Jahreslage­bericht 1938 des Sicherheitshauptamtes5 heißt es:

[…] Durch Paßerlaß vom 7. 10. 1938 schließlich wurde den Juden der Inlands-Paß entzogen. Gleichzeitig wurde ihnen auferlegt, bis zum 31. 12. 1938 bei der zuständigen Polizeibehörde die Ausstellung einer Kennkarte zu beantragen, die als amtlicher Inlandsausweis gilt. […]
Die Grundlagen des jüdischen Lebens und seiner Organisation wurden durch das im Anschluß an die Ermordung des Legationsrats vom Rath in Paris durch den Juden polnischer Abstammung, Feibel Grynszpan, im ganzen Reichsgebiet erfolgte Vorgehen gegen die Judenschaft völlig geändert.
Die Aktion äußerte sich im allgemeinen in der Zerstörung oder Niederbrennung der Synagogen und in der Demolierung fast aller jüdischen Geschäfte, die hierdurch gezwungen waren, den Verkauf einzustellen. Zum Teil wurden auch die Wohnungen von Juden durch die Aktion betroffen. Wertvolle Archivstücke und Kunstschätze wurden infolge Unachtsamkeit oder Unwissenheit der Beteiligten [!] vernichtet. Bei der Gegenwehr wurden eine Anzahl von Juden getötet oder verletzt.
Um den Zwang zur Auswanderung zu verstärken, wurden gleichzeitig etwa 25 000 männliche Juden, z. T. vorübergehend, in die Konzentrationslager überführt. […]

Nach Ausführungen über Zwang zur Aufgabe von Firmen, Handwerksbetrieben, Vermögens­beschlagnahme und Ähnlichem heißt es weiter:

Durch sonstige Bestimmungen erfolgte […] der endgültige Ausschluß von der Teilnahme am deutschen Kulturleben und an der Erziehung. Darüber hinaus wurde die Judenschaft zur Wiedergutmachung der bei der Aktion entstandenen Schäden zur Zahlung einer Kontribution von 1 Milliarde Reichsmark veranlagt, die in einer 20%-Abgabe von Juden mit einem Vermögen über 5 000 RM erhoben wird.
Zusammenfassend kann festgestellt werden, daß die Judenschaft – soweit es sich um deutsche Staatsangehörige und Staatenlose handelt – damit endgültig aus allen Teilen des deutschen Gemeinschaftslebens ausgeschlossen ist, so daß den Juden zur Sicherung der Existenz nur die Auswanderung bleibt.6

Die Ereignisse vom 9. und 10. November erregten die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit. Menschen in Großbritannien entschlossen sich, wenigstens den bedrohten jüdischen Kindern zu helfen.
    In seinem Buch »Kindertransport« schildert der englische Historiker Barry Turner die poli­ti­schen Konstellationen in Großbritannien und Deutschland vor Kriegsbeginn. Auf der Grund­lage von Interviews mit Juden aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei, die als Kinder nach England emigrierten, zeichnet er Einzelschicksale nach. In ihrem Vorwort zu diesem Buch schreibt Lucie Kaye:

Es war ein ungewöhnliches Klassentreffen, zu dem sich im Juni 1989 fast tausend Frauen und Männer aus aller Herren Länder in Harrow, einem kleinen Londoner Vorort, zusammengefunden hatten. […] Es handelte sich um ehemalige Flüchtlingskinder, von denen 1938 und 1939 zehntausend mit Kindertransporten aus Deutschland, Österreich und der Tschechoslowakei den schützenden Hafen Großbritanniens erreicht hatten. […]
    Die meisten Kinder sahen ihre Eltern nie wieder. […] Der Schmerz und die Trauer über deren gewaltsamen Tod haben die Erinnerung getrübt und peinigen die Betroffenen heute noch mit Schuldgefühlen. […
    Die Pogrome der »Kristallnacht« am 9. November 1938 enthüllten der ganzen Welt das volle Ausmaß der hoffnungslosen Situation. »Rettet die Kinder!« lautete das Gebot der Stunde. In wenigen Tagen gelang es einer kleinen Gruppe führender Engländer, darunter Juden und Quäker, mit dem britischen Innenministerium zu verhandeln. Nach einer Debatte im englischen Parlament am 21. November verkündete die Regierung ihren Entschluß: Eine unbegrenzte Zahl von Kindern bis zu siebzehn Jahren aus Deutschland und Österreich (und später auch aus der besetzten Tschechoslowakei) erhielt die Einwanderungserlaubnis nach Großbritannien. […]

Lola Hahn-Warburg, seit 1933 aktives Vorstandsmitglied der Reichsvertretung der Juden in Deutschland sowie der Jugendalijah, war eng mit den Problemen organisierter Auswan­derung elternloser Jugendlicher vertraut. Obwohl erst seit September 1938 in London ansässig, war sie aufgefordert worden, sich der Delegation zum Innenministerium anzu­schließen. 1989, beim Londoner Treffen der damals mit Kinder­transporten nach England gekommenen Flüchtlinge, erinnert sie sich:
[…] Eine beispiellose humanitäre Aufgabe, die nur mit fast generalstabsmäßiger Planung gelingen konnte, mußte in enger Zusammenarbeit mit deutschen und britischen Behörden durchgeführt werden. Es lag in der Natur der Sache, daß dies zwangsweise Verzögerungen verursachen würde.
    Und wie sollten wir die Gefühlsprobleme der Kinder lösen, die so plötzlich von ihren Eltern getrennt worden waren? Welchen Weg mußten wir beschreiten, damit ein Kind sich bei fremden Leuten zu Hause fühlt, deren Sprache es nicht versteht?
[…]
    In der kurzen Zeit, die uns zur Verfügung stand, mußten wir zuerst an die Rettung der größtmöglichen Anzahl Kinder denken. Anfang 1939 konnte 82 niemand mehr verkennen, daß wir gegen die Zeit arbeiteten. Die Zeichen an der Wand waren bedrohlich genug – und der Kriegsausbruch würde die Kindertransporte endgültig vereiteln.
Ein Appell des früheren Premierministers, Lord Baldwin, traf nicht auf taube Ohren:
Ich bitte Euch, den Opfern dieser Katastrophe beizustehen, die keine Natur­kata­strophe ist, kein Erdbeben und keine Überschwemmung, sondern eine Kata­strophe vom Ausbruch der Unmenschlichkeit der Menschen gegen ihre Mit­menschen.
Nach sechs Monaten hatte der Baldwin-Fonds 500 000 Pfund gesammelt. Aber die britische Öffentlichkeit fühlte sich angesprochen und ergriff private Initiativen, die für die jungen Flüchtlinge von entscheidender Bedeutung werden sollten: Sie nahmen sie in ihren eigenen Häusern auf!
Christen und Juden, Einzelpersonen und Familien erklärten sich bereit, die elternlosen Jungen und Mädchen, manche nicht älter als drei Jahre, in ihre Obhut zu nehmen und es ihnen zu ermöglichen, im Familienkreis in die Fremde hineinzuwachsen und in der neuen Umwelt heimisch zu werden. Für diejenigen, die keine Pflegefamilie fanden, wurden in einigen Städten und auf dem Land Wohnheime eröffnet, während eine geringe Zahl in Internaten Aufnahme fand. […]
    Die Kindertransporte nach Großbritannien sind Geschichte geworden. Es gehört zur Tragik der Gegenwart, daß internationale Flüchtlingsprobleme von neuem auf der Agenda der Politiker stehen. Vielleicht trägt die Geschichte der Kindertransporte zu der Erkennt­nis bei, daß Privatinitiativen, humanitäre Beweggründe und individuelle Einsatz­bereit­schaft wesentliche Voraussetzungen für die Lösung der Probleme sind.7

Über den Ärmelkanal entkamen den Nazis als Kinder auch Karlheinz Liebenau (Charles Leigh) und seine Schwester Helga, Werner Bruck (Vernon Brooks), Peter Reiche, Susi Podgurski geborene Cohn, Gerhard Wachsner (Gerald Warner) und Hella Leonie Hewison geborene Woznianski mit ihrer Schwester Lilian. Ihre Lebensberichte sind im Kapitel »Erinnerungen« enthalten.
    Viele jüdische Kinder emigrierten aus Deutschland nach Palästina. Die jüdischen Schulen, die nach dem Erlass vom 15. November 1938 die relegierten Kinder aufgenommen hatten, bereiteten gezielt auf die Auswanderung vor. Die Kinder eigneten sich praktische Fähigkeiten an, etwa in der Landwirtschaft, der Gärtnerei und in handwerklichen Berufen. Zu diesen Schulen gehörte die Theodor-Herzl-Schule am Kaiserdamm. Die Ausreise ging über die Kinder- und Jugendalijah mit Sitz in der Kantstraße 158 vonstatten.8
    Am 30. Januar 1933, dem Tag der Machtübergabe an Hitler, hatte Recha Freier in Berlin die Gründungsurkunde für die Jüdische Jugendhilfe e. V. unterzeichnet, deren Vorsitzende sie war. Die 1892 geborene Recha Schweitzer war seit 1919 mit dem Rabbiner Dr. Moritz Freier verheiratet, sie hatte in Breslau Pädagogik studiert und danach als Lehrerin gearbeitet. Die Eheleute waren überzeugte Zionisten. Recha Freier selbst hatte schon im Kindesalter antisemitische Erfahrungen machen müssen, die sie in dem Gedicht »Erdbeben« beschreibt: »Der Stadtgarten / Das goldglänzende Gitter / geschlossen / ein großes weißes Pappschild / Ein Rahmen aus schwarzem Papier / Eintritt für Hunde / und Juden verboten!«9
    Recha Freier erkannte sehr früh, dass jüdische Kinder und Jugendliche in Deutschland chancenlos sein würden, und entwickelte den Gedanken, Jugendliche nach Palästina zu bringen – zur Persönlichkeitsförderung und zum Aufbau des Landes. Gegen den Widerstand der zionistischen Bewegung – man hielt ihr entgegen, Palästina brauche Fachkräfte, und im Übrigen sei alles nicht so schlimm, was 1932 wohl auch noch zutraf –, gegen Bedenken von Eltern und Jüdischer Gemeinde setzte sie die Gründung eines Hilfskomitees für jüdische Jugendliche durch, die Jüdische Jugendhilfe e. V. Mit dem Kinderheim Ahawah in Berlin-Mitte (Auguststraße 14–16) und der Jüdischen Waisenhilfe für das Jugenddorf Ben-Schemen schloss sich der Verein zur Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendalijah zusammen. Unter der Bedingung, dass Unterbringung und Ausbildung für zwei Jahre finanziell garantiert waren, stellte die britische Mandatsregierung in Palästina der Jugendalijah besondere Einwan­de­rungs-Zertifikate zur Verfügung.
    Das folgende Merkblatt gibt ausführlich Auskunft über die Jugendalijah.

1. ALLGEMEINES
Jugendalijah heißt Einwanderung von Jugendlichen im Alter von 15 bis 17 Jahren nach Palästina.
2. WOHIN KOMMEN DIE JUGENDLICHEN?
Eine große Anzahl von palästinensischen Siedlungen und Heimen hat sich zur Aufnahme von Gruppen der Jugendalijah bereit erklärt. Mit den Siedlungen werden Verträge geschlos­sen, nachdem sie auf Vorschlag des zuständigen Departements der Jewish Agency von der Regierung in Jerusalem unter hygienischen und erzieherischen Gesichts­punkten zur Aufnahme von Jugendlichen als geeignet erklärt worden sind.
3. WAS TUN DIE JUGENDLICHEN IN PALÄSTINA?
Die Jugendlichen arbeiten täglich 4 bis 6 Stunden körperlich, am Nachmittag erhalten sie theoretischen Unterricht. Zunächst werden die Jugendlichen probeweise in eine Reihe von Arbeitszweigen eingereiht, bis sie sich für einen bestimmten entscheiden. In Ergänzung der praktischen Arbeit wird theoretischer Fachunterricht gegeben. Der allgemeine Unterricht erstreckt sich auf folgende Gebiete: Hebräisch, Bibel, jüdische Geschichte, Landeskunde, Literatur und Naturwissenschaften, später Englisch oder Arabisch.
4. WIE SIND DIE JUGENDLICHEN UNTERGEBRACHT?
Die Jugendlichen wohnen in geschlossenen Gruppen in besonderen Häusern unter pädagogischer Leitung. Es besteht ein Normaltyp für diese Häuser, wobei ein Haus vier Zimmer mit je 4 – 6 Betten umfaßt.
5. WIE IST DIE GESUNDHEITSPFLEGE?
Nur solche Siedlungen dürfen Jugendliche aufnehmen, deren klimatische und hygienische Lage sie einwandfrei dazu befähigt. Es werden Gutachten hierüber von der zuständigen Gesundheitsbehörde Palästinas eingeholt. Für die Gesundheitspflege sind in den Gruppen besondere Fachkräfte der Siedlungen angestellt, die nicht nur die ärztliche Überwachung, sondern auch die Kontrolle über alle hygienischen Erfordernisse ausüben. Alle Jugend­lichen sind Mitglieder der Kupat Cholim (Allgemeine Krankenkasse). Darüber hinaus hat die Jewish Agency Fürsorgerinnen eingestellt, die ständig die Gruppen besuchen und überwachen.
6. WAS GESCHIEHT MIT DEN JUGENDLICHEN AM ENDE DER ZWEIJÄHRIGEN AUSBILDUNG?
Die Siedlungen verpflichten sich vertraglich, den Jugendlichen nach Beendigung der zweijährigen Ausbildungszeit Arbeitsplätze in der eigenen Wirtschaft oder an einer anderen Stelle zu verschaffen. Die Mehrzahl der Jugendlichen in den bisher zur Entlassung gekommenen Gruppen sind zusammengeblieben und haben ihre Einordnung gemeinsam vorgenommen. – Jugendliche, die andere Pläne haben, können diese selbstverständlich ausführen. – Wirtschaftliche Hilfe ist von den Kindern während der 2jährigen Ausbildung nicht zu erwarten. Es ist nicht zulässig, daß Eltern oder sonstige Angehörige, die in Palästina leben oder später nachkommen, die Jugendlichen vor Abschluß der 2jährigen Ausbildungszeit aus den Gruppen herausnehmen.
7. BISHERIGE LEISTUNG
2.184 Jugendliche wurden bis Ende März 1938 nach Palästina gebracht. 958 Jugendliche haben bis jetzt die zweijährige Ausbildung beendet. Sie leben und arbeiten zum größten Teil weiterhin gruppenweise auf dem Land. 33 Siedlungen und Heime in Palästina haben Jugendalijah-Gruppen aufgenommen.
8. WAS KOSTET DIE AUSBILDUNG IN DER JUGENDALIJAH?
Die vollen Kosten für Unterhalt und Ausbildung betragen monatlich RM 60,--. In Aus­nahmefällen können nach Vereinbarung die monatlichen Kosten auf RM 45,-- herab­gesetzt werden. Wird eine Ermäßigung für die Unterhaltskosten sowie ein Zuschuß zu den Kosten des Vorbereitungslagers und der Reise beantragt, so ist ein entspre­chender Antrag durch die örtliche Gemeinde über die Bezirksstelle 86 für Berufs­umschichtung an die Jüdische Jugendhilfe, Berlin-Charlottenburg 2, Kantstr. 158, zu stellen.
9. DIE RELIGIÖSE JUGENDALIJAH
Innerhalb der Jüdischen Jugendhilfe e. V. betreut der »Ausschuß für religiöse Jugend­alijah« die Alijah der religiösen Jugend. Der Ausschuß arbeitet mit dem Brith Chaluzim Datiim (Bachad) zusammen. Seine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, daß die religiösen Jugendlichen in einer Atmosphäre aufwachsen, die eine dem Gesetz entsprechende Lebensführung und Erziehung gewährleistet. Es finden für sie besondere Vorbe­rei­tungs­lager statt. – Die Einordnung in eine religiöse Gruppe erfolgt nach dem (im Anmelde­bogen ausgesprochenen) Wunsche der Eltern oder Erziehungs­berechtigten und des Jugendlichen selbst. Eine klare Stellungnahme mit Ja oder Nein ist notwendig. Im übrigen ist der Weg zur Alijah der gleiche. Auch die Kosten sind die gleichen. – Um die Aufnahmefähigkeit zu vergrößern, ist das Kfar Noar Dati (religiöses Jugenddorf ) errichtet worden. Mädchen finden auch im Beth Zeiroth Misrachi, einer Haushaltungsschule in Jerusalem, gründliche Ausbildung in allen hauswirtschaftlichen Zweigen und in der Gärtnerei.
10. WIE SOLLEN DIE JUGENDLICHEN DIE ZEIT ZWISCHEN SCHULENTLASSUNG UND EINORDNUNG IN DIE JUGENDALIJAH AUSNUTZEN?
Die Zeit zwischen Beendigung der Schule und der Einreihung in die Jugendalijah soll bereits zur Vorbereitung für das spätere Leben in Palästina ausgenutzt werden. Es ist daher zweckmäßig, daß sich die Jugendlichen sofort nach Beendigung der Schule bei der Jüdischen Jugendhilfe melden. – Die Jüdische Jugendhilfe hat eigene Schulungskurse eingerichtet. In Vorbereitung befindet sich eine Schule auf dem Lande, in der die Jugendlichen geistig und körperlich auf Palästina vorbereitet werden. Die zentralen Lerngebiete sind Hebräisch, jüdische Geschichte und Palästinakunde. Darüber hinaus versucht die Schule, die Jugendlichen lebensmäßig zu erfassen und ihnen die Atmosphäre des palästinensischen Lebens, das ihnen bevorsteht, vor ihrer Alijah zu vermitteln. – Für Mädchen, die in der Zwischenzeit hauswirtschaftliche Stellen annehmen, sind in einigen Städten Nachmittagskurse eingerichtet, in denen sie im gleichen Sinne, wie es in den Schulungskursen für Jugendalijah geschieht, unterrichtet und erfaßt werden. Zu diesem Zweck hat die Jüdische Jugendhilfe Mädchenseminare eingerichtet. – Für religiöse Jugendliche wird besonders der Besuch der Hoffmann‘schen Jeschiwah (Lernzentrum) in Frankfurt am Main zweckmäßig sein.
11. DER WEG ZUR JUGENDALIJAH
Anfragen sind zu richten an das Büro der Jüdischen Jugendhilfe, Berlin-Charlottenburg 2, Kantstr. 158, Nebeneingang, II, Sprechstunden: Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag von ½ 4 bis ½ 6 Uhr und nach telefonischer Vereinbarung. (Tel. 91 55 56 / 57.)

Letzte Seite des Jugendalijah-Merkblatts
Herausgegeben von der Jüdischen Jugendhilfe e. V., Berlin-Charlottenburg 2, Kantstr. 158.

Recha Freier wurde 1939 gezwungen, ihr Amt als Vorsitzende der Jugendalijah niederzulegen, weil die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland mit ihren – die Nazi-Gesetze miss­achtenden – Methoden zur Beschaffung der notwendigen Aus- und Einreisepapiere für die Jugendlichen nicht einverstanden war. So beschaffte sie bei Reedereien Schiffspassagen mit der Behauptung, sie habe die für die Einreise nötigen Zertifikate. Beim Palästina- Amt in der Meinekestraße 10 drohte sie dann mit den Fahrkarten, sie brauche jetzt die Zertifikate, sonst gebe es einen Skandal. Den letzten Anlass, sich von Recha Freier zu trennen, bot sie der Reichsvereinigung, als sie mit Hilfe eines Mitarbeiters des Palästina-Amtes einhundert Aus­wan­derungsbestätigungen stahl und sie noch dazu für polnische anstatt für deutsche Juden verwendete. Die Ehefrauen der verhafteten Polen legten diese Zertifikate vor und erwirkten auf diese Weise die Freilassung ihrer Männer aus dem Konzentrationslager.10

Erst spät würdigte man Recha Freiers Tun: 1975 erhielt sie die Ehrendoktorwürde der Hebrew University, 1981 wurde ihr die höchste Auszeichnung des Staates Israel, der Israel-Preis, verliehen. Seit November 1984 – zirka sieben Monate nach ihrem Tod – gibt es im Jüdischen Gemeindehaus eine Berliner Gedenktafel zur Erinnerung an sie und ihre Arbeit. Des 75. Jah­restages der Gründung ihrer Kinderrettungsorganisation gedachte man im April 2008 mit Festakten in Berlin, München und Frankfurt am Main.
    Die Kinder- und Jugendalijah rettete Tausende von Kindern und Jugendlichen vor der Deportation in die Vernichtungslager. Zu ihnen gehören Felix Meyer (Jizchak Meir) und die Schwestern Mirjam Rottenberg und Rachel Doron (vormals Mirjam und Harriet Gärtner). Sie berichten im Kapitel »Erinnerungen« dieses Buches von ihrem Leben.11

Die jüdischen Kinder, die nicht das Glück hatten, Deutschland rechtzeitig verlassen zu können, waren der Willkür der Nationalsozialisten ausgeliefert, die keinen Unterschied zwischen alt und jung machten. Bis zum Kriegsbeginn setzten die Nationalsozialisten alles daran, Juden mit schikanösen Gesetzen, Verordnungen und Maßnahmen aus Deutschland zu vertreiben. Am 1. September 1939 aber schlossen sich die Grenzen in Europa. Kein europä­isches Land nahm noch Emigranten aus Deutschland auf.
    Zunächst wurden Juden als zwangsverpflichtete Arbeitskräfte benutzt. Im Februar 1940 strich man ihnen den Kinderzuschlag. Nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 begannen die Nationalsozialisten, ihre wirklichen, im Grunde schon bekannten Absichten in die Tat umzusetzen. Am 31. Juli 1941 befahl Reichsmarschall Hermann Göring dem Chef des Reichssicherheitshauptamtes Reinhard Heydrich, die »Gesamtlösung der Juden­frage« vorzubereiten. Aus der »Gesamtlösung« wurde bald die »Endlösung«.
    Von September 1941 an mussten alle Juden, die älter als sechs Jahre waren, den gelben Stern tragen. Noch gab es ein jüdisches Schulwesen; ein Dreivierteljahr später schon war jede Unterrichtung jüdischer Kinder verboten. Die älteren Schülerinnen und Schüler wurden zur Zwangsarbeit in die Industrie verpflichtet; die Jugendschutzgesetze galten ab Dezember 1941 nicht mehr für sie.
    Am 18. Oktober 1941 verließ der erste Deportationszug mit 1 053 Menschen Berlin in Richtung Litzmannstadt – so hieß seit dem 11. April 1940 die polnische Stadt Lodz. In diesem Transport waren 187 Charlottenburger, darunter drei Kinder. Sie kamen nicht wieder.
    Der »7. Ost-Transport« fuhr, ebenfalls mit über tausend Menschen, am 27. November 1941 nach Riga. Neun Charlottenburger Kinder waren im Zug, der in der Nacht vom 29. auf den 30. November 1941 auf dem Bahnhof Ðkirotava bei Riga ankam. Weil die SS und ihre letti­schen Gehilfen es zeitlich nicht geschafft hatten, die lettischen Juden aus dem Rigaer Ghetto zu ermorden, und noch kein Platz für die Berliner Juden geschaffen worden war, wurden die Ankömmlinge auf Befehl des Höheren SS- und Polizeiführers Friedrich Jeckeln in den Wald von Rumbula geführt und dort erschossen, unter ihnen der viereinhalbjährige Joachim Wolff.
    Das jüngste Charlottenburger Opfer der Mordaktionen war Zilla Schlesinger, geboren am 8. Februar 1943. Sie wurde am 4. März 1943 mit ihrer Familie aus der Giesebrechtstraße 18 nach Auschwitz deportiert. Ihr kurzes Leben endete in der Gaskammer.

Über die Motive der Mörder, auch die Schwächsten der Gesellschaft nicht zu verschonen, hat der Reichsführer SS, Chef der Deutschen Polizei und Reichsminister des Innern Heinrich Himmler in einer Rede Auskunft gegeben, die er am 6. Oktober 1943 in Posen vor Reichs- und Gauleitern der NSDAP hielt:

Ich bitte Sie, das, was ich Ihnen in diesem Kreise sage, wirklich nur zu hören und nie darüber zu sprechen. Es trat an uns die Frage heran: Wie ist es mit den Frauen und Kindern? – Ich habe mich entschlossen, auch hier eine klare Lösung zu finden. Ich hielt mich nämlich nicht für berechtigt, die Männer auszurotten, sprich also umzubringen oder umbringen zu lassen – und die Rächer in Gestalt der Kinder für unsere Söhne und Enkel groß werden zu lassen. Es mußte der schwere Entschluß gefaßt werden, dieses Volk von der Erde verschwinden zu lassen. Für die Organisation, die den Auftrag durchführen mußte, war es der schwerste, den wir bisher hatten. […]
    Ich habe mich für verpflichtet gehalten, […] zu Ihnen als den obersten Würdenträgern der Partei, dieses politischen Ordens, dieses politischen Instruments des Führers, auch über diese Frage einmal ganz offen zu sprechen und zu sagen, wie es gewesen ist. Die Judenfrage in den von uns besetzten Ländern wird bis Ende dieses Jahres erledigt sein. Es werden nur Restbestände von einzelnen Juden übrig bleiben, die untergeschlüpft sind.12

Fast 6 200 Charlottenburger sind Opfer des Rassenwahns der Nationalsozialisten geworden. 190 von ihnen waren bei Beginn der Deportationen 14 Jahre und jünger.


1 Reichsgesetzblatt I, S. 225.
2 Zitat aus der Niederschrift über die Besprechung mit den Vorstehern der Finanzämter des Oberfinanz­präsidenten Berlin vom 5. April 1938. Bundesarchiv Berlin R 2 / Nr. 58014, Bl. 97 ff., abgedruckt in: Martin Friedenberger, Klaus-Dieter Gössel u. Eberhard Schönknecht: Die Reichsfinanzverwaltung im National­sozia­lis­mus. Darstellung und Dokumente. Bremen: Edition Temmen 2002, S. 55. (Veröffentlichungen der Gedenk- und Bildungsstätte der Wannsee-Konferenz. Bd. 1.)
3 Reichgesetzblatt I, S. 1044.
4 Die Zehnte Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 4. Juli 1939 verpflichtete die – zu gründende – Reichsvereinigung der Juden in Deutschland, »für die Beschulung von Juden zu sorgen, […] die notwendige Zahl von Volksschulen zu errichten […]«. Die Reichsvereinigung konnte auch »Mittel- und höhere Schulen sowie Berufs- und Fachschulen […] unterhalten, die der Auswanderung der Juden förderlich sind«. (Reichsgesetz­blatt I, S. 1097.)
5 Das Sicherheitshauptamt war bis zum 26. September 1939 ein nachrichtendienstliches Instrument der NSDAP und unterstand dem Reichsführer SS. Durch Erlass Himmlers vom 27. September 1939 wurde es mit anderen Dienststellen, darunter der Gestapo und der Kriminalpolizei, zum Reichssicherheitshauptamt zusammengeführt.
6 Bundesarchiv R 58/1094, S. 32 ff.
7 Lucie Kaye, Vorwort zu: Barry Turner: Kindertransport. Eine beispiellose Rettungsaktion... Aus dem Engl. von Anna Kaiser. Gießen: Psychosozial­-Verlag 1994. – Wir danken dem Psychosozial-­Verlag für die Abdruck­geneh­migung.
8 Vgl. dazu auch das Kapitel »Die Kinder­ und Jugend-­Alijah« im Beitrag von Heinrich-­Wilhelm Wörmann, S. 56 ff. in diesem Buch.
9 Das Gedicht »Erdbeben« von Recha Freier ist ihrem Gedichtband Auf der Treppe entnommen, erschienen 1976 im Hamburger Christians-Verlag.
10 Eine ausführliche Geschichte Recha Freiers und der Jugendalijah findet sich in: Aus Kindern wurden Briefe. Die Rettung jüdischer Kinder aus Nazi-Deutschland. Hrsg. von Gudrun Maierhof, Chana Schütz u. Hermann Simon. Berlin: Edition Berlin im Metropol-Verlag 2004 (jetzt: text•verlag Berlin). Vgl. auch Chana C. Schütz: »Trotzdem.« Zionisten in Berlin. In: Juden in Berlin 1938–1945. Hrsg. von Beate Meyer u. Hermann Simon. Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung Mai bis August 2000. Berlin: Philo Verlagsgesellschaft 2000. S. 129–145, hier S.­137.
11 S. 133 ff. in diesem Buch.
12 Von der zweiten Posener Rede Heinrich Himmlers, gehalten am 6. Oktober 1943, sind drei Fassungen erhalten: Himmlers knappe Redenotizen, der vollständige, nach einer Stenografie auf Schreibmaschine ausge­führte, in Details korrigierte Redetext sowie dessen von Himmler autorisierte Endfassung. Alle drei Fassungen befanden sich in den Akten des »Persönlichen Stabes Reichsführer-SS«, dessen Dokumente die US-Behörden 1945 vollständig beschlagnahmten. Die in den USA auf Mikrofilm aufgenommenen Redetexte wurden an das Bundesarchiv übergeben. Bei der Auswertung dieser nun zugänglichen Dokumente entdeckte der Historiker Erich Goldhagen 1970 in Koblenz diese bis dahin unbekannte Rede. Sie wurde 1974 in der von Bradley Smith und Agnes Peterson herausgegebenen Auswahl von Himmlers Geheimreden erstmals vollständig abgedruckt. Heinrich Himmler. Geheimreden 1933–1945. Hrsg. von Bradley F. Smith u. Agnes F. Petersen. Frankfurt am Main, Berlin, Wien: Propyläen-Verlag 1974.

Aus: Juden in Charlottenburg. Ein Gedenkbuch. – Berlin: textpunktverlag 2009, S. 75-89
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