Mârtiòð Zîverts

Fiasko

Ein Zirkusspiel der Epoche
in drei Aufzügen



Personen:

Upîte, Bedienung in einem Café
Indra, ihre Freundin
Dr. Esse, Oberärztin des Städtischen Krankenhauses
Million, Kommandeur eines sowjetischen Exekutionskommandos
Rotbart, sein Gehilfe
Fiasko, Zirkusclown

Ort & Zeit:

Eine Kleinstadt im Osten Lettlands, Juli 1941



Leseprobe: 2. Aufzug (In Indras Zimmer)



FIASKO [...] Schon damals, als ich in dem alten Haus dort unten an der Brücke wohnte, habe ich begonnen, darüber nachzudenken: Weshalb arbeiten wir von früh bis spät und verdienen nur so viel, daß es für das nackte Überleben reicht? Und weshalb steht am anderen Ufer des Flusses ein prunkvolles Haus, in dem ein Händler wohnt, der überhaupt nicht arbeitet, aber dennoch alles im Überfluß besitzt? Warum brüllt der Hauswart, der vor dem Händler schon von Ferne die Mütze zieht, stets meine Mutter an, deren Hände von der Waschlauge zerfressen sind? Wo ist die Gerechtigkeit? Schon damals habe ich gespürt, daß irgend etwas nicht in Ordnung ist in dieser Welt. Und ich war nicht der einzige. Wir hielten geheime Versammlungen ab und brannten in unendlichem Zorn darauf, diese alte, menschenunwürdige Welt umzustürzen. An ihrer Stelle gedachten wir ein neues Dasein zu errichten, wo der Mensch sich sicher fühlen kann und frei. Wir wußten auch, daß wir mit unserem Zorn nicht allein sind, daß wir in jedem Land und jeder Stadt eine unzählige Schar von Freunden haben. Wie du dir denken kannst, begann ich sehr früh, im Untergrund tätig zu werden, und das geschah hier in dieser Stadt. Damals schwor ich, mein Leben jener großen Idee zu widmen, die dem Weg in eine schöne und freie Zukunft zu gleichen begonnen hatte. Mein Versprechen habe ich mannhaft gehalten. Doch als es mir hier zu eng wurde, zog ich in die Welt, denn dort konnte ich mehr zum Wohle des Menschen tun. Ich reiste von Land zu Land und stellte die Verbindungen zwischen den einzelnen Kompanien unseres großen Heeres her. [...] Immer häufiger erreichten mich Nachrichten, die mit eisigen Fingern mein Herz umklammerten. Ich hörte, daß unter der Fahne der Freiheit, wo der Mensch glücklich und selbstbewußt werden sollte, zahllose Sklavenlager entstanden waren, in denen Millionen von Menschen litten und starben. Zunächst wies ich solche Gerüchte zurück, dann jedoch häuften sich die Beweise, daß es sich dabei um die Wahrheit handelte. Eines Tages kam ein alter Freund zu mir, der einem Blutbad entronnen war, in dem Tausende der besten Kämpfer für die Zukunft ausgetilgt worden waren. Da begann meine Krankheit, ich versank allmählich in Melancholie. Die strahlende Zukunftsvision, für die ich ein halbes Leben lang gebrannt hatte, verwandelte sich vor meinen Augen in einen blutigen Alptraum. [...]
Aber ich kann den Lauf der Welt nicht ändern. [...] Ich weiß, daß ich mitverantwortlich bin für Zehntausende von Menschenleben, die im Amoklauf der Macht ausgelöscht wurden. Obgleich ich es nicht gewollt habe, hat meine Hand geholfen, jenes Gefängnis zu errichten, in dem Millionen noch immer darben. Ich bin ein hundertmal schlimmerer Verbrecher als jener Sadist vorhin im Café. Ich habe dazu beigetragen, daß er die Macht über das Leben anderer hat. Siehst du, hier ist die Bestätigung dafür – jenes Papier, das er mir aus der Tasche zog und das sogar ihm Angst einflößte. Dies ist mein ganzes Leben. Meine Träume von einer besseren Zukunft. Und was ist das für eine Zukunft des Gestern, in der wir heute leben? Terror und der Hauch des Todes. Sieh nur, wofür ich mein Leben hingegeben habe. Genauso wie Tausende meinesgleichen, die die von ihnen selber errungene Macht unter die Erde gebracht hat. Doch ich mache noch immer mit bei diesem gewaltigen Amoklauf. Ich besitze ein Diplom, daß ich frei von jedem Gewissen bin. Ein Lump und feige genug, um meiner Epoche würdig zu sein.  Er zerknüllt das Dokument und wirft es in eine Ecke.  Genug! Ich bin als Mensch geboren, und als Mensch will ich auch sterben. So. Jetzt bin ich bereit, zum Teufel zu gehen. Und sei es sofort. [...]

1960
Aus dem Lettischen von Matthias Knoll


Die Übersetzung wurde von der Staatlichen Stiftung Kulturkapital gefördert.

Titel des lettischen Originals: Fiasko
Erschienen in: Trimdas lugas [Riga: Zinâtne, 1994], S. 173-218
Uraufführung und Erstveröffentlichung: 1960

© der deutschen Übersetzung M. Knoll
Frei zur Deutschen Erstaufführung

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