Miks Valdbergs

Verschiedene Häuser

Ein Waldrandmärchen


An dem Steinhaufen, den sich Dex, die Eidechse, als Sommerresidenz ausgesucht hatte, konnten Pelle und Kribbel nur mit Mühe ihre Ratlosigkeit verbergen. Zwar gehören sie ganz bestimmt nicht zu denjenigen, die aus schwierigen Situationen keinen Ausweg finden können – aber wie sollten sie erraten, welche der Ritzen und Spalten zwischen den bemoosten Steinen der richtige Eingang zu Dex’ Behausung ist? Nachdem sie sich eine Weile beraten und verschiedene Möglichkeiten erwogen hatten, kamen die Freunde zu dem Schluß, daß Dex diese Frage am besten selber beantworten soll. Und um ihn zu finden, mußten sie nur den Kopf in jeden Spalt stecken und rufen.
    Allmählich begann die Hoffnung zu schwinden, daß sie auf diese Art und Weise den Bewohner der seltsamen Behausung aufspüren würden. Doch dann tauchte aus einer Ritze, in die kurz zuvor sowohl Pelle als auch Kribbel hineingerufen hatten, das Mäulchen des verschlafenen Dex auf.
    „Dex”, rief Kribbel, „du hast das eigenartigste Haus vom ganzen Waldrand! Ich bin sicher, daß man keine zweite so ungewöhnliche Wohnung findet, so sehr man auch sucht!”
    Dex war ein wenig beleidigt. „Ich finde, es ist ein ganz gewöhnliches Heim. Wodurch ist wohl deines hinter einer wackligen Baumrinde besser? Oder Pelles Loch im Erdboden?”
    „Schluß mit dem Gezanke!”, mischte Pelle sich ein, bevor es zum Streit kam. „Das ist eine gute Idee, Kribbel: zu erforschen, welche Plätze sich die Waldrandler ausgesucht haben, um sich ihr Zuhause einzurichten. Gut möglich, daß die Wahl von Dex nicht einmal die überraschendste ist.”

„Ich kann mir schon denken, was das heißt: erforschen!”, sagte Kribbel. „Bis in die tiefe Nacht werden wir auf den Beinen sein. Natürlich mache ich trotzdem mit, und zwar ohne mich zu beklagen, aber manchmal ist gar nicht einfach, mit eurem Tempo mitzuhalten.”
    „Mach dir keine Sorgen”, beruhigte ihn Pelle, „wir werden schon für dich sorgen, wenn du nicht mehr kannst. Aber bastele uns doch aus einem Rispengrashalm einen Wanderstab, damit das Gehen leichter fällt! Wir warten solange an der Wegbiegung auf dich.”
    Aus dem Warten wurde jedoch nichts, denn Pelle und Dex vernahmen einen verzweifelten Schrei, der in entrüstetes Gejammer überging: „Gib her! Loslassen! Immer auf die Kleinen...”
    Erschrocken stürzten die Wanderer zu Kribbel, fanden ihn jedoch gesund und munter dort vor, wo sie ihn zurückgelassen hatten.

Kribbel ließ böse Blicke in ein Grasbüschel blitzen und zischte: „Was für eine Unverschämtheit! Kaum lege ich meinen Halm für einen Augenblick zu Boden, um zu schauen, ob ich nicht einen besseren finde, da schleppt ihn auch schon jemand fort! Das sind vielleicht Sitten...”
    Dex nickte: „Das ist in der Tat unerhört! Wir müssen herausfinden, wer hinter dieser Missetat steckt.”
    Beim Untersuchen der näheren Umgebung stießen die Freunde auf einen winzigen Pfad, auf dem ein ununterbrochener Strom von Zweiglein, Fichtennadeln und Grashälmchen dahinglitt.
    „Ameisen!” murmelte Pelle überrascht. „Aber wozu brauchen sie das alles? Kommt, folgen wir ihnen und sehen nach!”

Während sie am Rande der Ameisenstraße entlanggingen, kamen sie gar nicht mehr heraus aus dem Staunen über all die eßbaren und nicht eßbaren Dinge, die sich, von den fleißigen Winzlingen getragen, in Richtung eines ebenmäßigen Hügels von Kiefernadeln und kleinen Zweiglein hinbewegten. Plötzlich brachte ein mit feinem, aber barschem Stimmchen gerufenes „Halt!” die neugierigen Wanderer zum Stehen. Am Rand des Pfades standen zwei kriegerisch wirkende Ameisen. „Ihr solltet lieber einen Bogen um diesen Ort machen!”
    „Wir wollen aber erfahren”, sagte Pelle beharrlich, „warum alles, was nicht niet- und nagelfest ist, zu diesem Haufen geschleppt werden muß.”
    Jetzt waren die Ameisen ernsthaft böse. „Du nennst unser Haus einen Haufen?! Seht besser zu, daß ihr verschwindet!”
    „Immer mit der Ruhe!”, versuchte Dex Pelles Patzer wieder auszubügeln. „Er hat auf die Entfernung einfach nicht erkennen können, worum es sich handelt. Bitte, verzeiht uns! Ihr habt ein großartiges Haus – schön anzusehen und ganz offensichtlich auch sehr sicher.”
    Die Atmosphäre entspannte sich, und Pelle erhielt sogar Antwort auf seine Frage. „Unser Haus befindet sich noch im Bau, deshalb brauchen wir alles, was zum Bauen geeignet ist. Und um Kraft für die Arbeit zu haben, muß auch Nahrung herangeschafft werden. Sowohl für das eine als auch für das andere sorgen die Arbeiterinnen, wir beide aber halten Wacht, daß kein Fremdling in unser Haus eindringt und bei der Arbeit stört.”
    Nun war ihre Neugier befriedigt, und die drei Freunde setzten ihren Ausflug fort. [...]

1996
Aus dem Lettischen von Matthias Knoll


Titel der lettischen Originalausgabe: daþâdâs mâjas
Riga: MIA-Press, 1997
© Miks Valdbergs (Text & Illustrationen)

© der deutschen Übersetzung M. Knoll
Gesamtumfang: 12.467 Zeichen / 7 Normseiten, frei zur Verwertung
Umfang der Leseprobe: 4.821 Zeichen (39%)

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