Dzidra Rinkule-Zemzare

Die Igelblume

 

Ein Gärtner züchtete in seinem Glashaus die unterschiedlichsten Blumen, eine schöner, prächtiger und duftender als die andere. Er pflegte sie voller Liebe und Hingabe, und darum blühten sie das ganze Jahr hindurch.
    Eines Tages brachte der Gärtner eine dunkelgrüne, unansehnliche Knolle in das Gewächshaus. Sie war runzelig und mit zahllosen Stacheln übersät.
    „Was soll das denn?” Die gelbe Teerose errötete vor Überraschung. Sie war höchst ungehalten über das Erscheinen eines so häßlichen Gastes im sonnendurchfluteten Blumenhaus. „Wie kann man von uns nur verlangen, mit so etwas gemeinsam unter einem Dach zu wachsen?”
    „Auch mir ist vollkommen unverständlich, wie unser lieber Gärtner uns so etwas antun konnte.” Die Hortensie war nicht weniger empört, und steifen Blütenschopfes fügte sie hinzu: „Das ist doch eine Schande für uns alle!”
    „Wahrlich, wahrlich”, seufzte das Maiglöckchen und bedeckte mit einem Blatt seine schimmernden Blütenäuglein, „ich glaube, daß ich vor Entsetzen schon ganz siech bin. Vielleicht muß ich sogar welken und sterben, denn den Anblick von etwas Häßlichem kann ich unmöglich ertragen.”
    „Reg dich nicht auf, meine Liebe”, beruhigte die Amaryllis das Maiglöckchen. „Schau einfach mich an, dann wird meine Schönheit dich die Häßlichkeit dieses stachligen Etwas vergessen lassen. Ich werde dein Herz erquicken, Liebste.”
    „Ich habe einen anderen Vorschlag”, sagte der Flieder. „Die häßliche Stachelknolle ist überhaupt nicht würdig, daß wir sie beachten. Also laßt uns so tun, als ob es sie gar nicht gäbe.”
    „Richtig! Genau!” bekräftigten die Blumen von allen Seiten. „Laßt uns so tun, als ob es sie gar nicht gäbe!”
    „Warum seid ihr nur so böse, Schwestern? Euer Ärger ist ganz unnötig. Auch ich bin eine Blume, und auch ich werde zur Freude des Gärtners erblühen.”
    Als sie das hörten, begannen die Blumen laut zu lachen. „Du? Eine Blume? Ha, ha! Wie sollst du denn blühen können! Na los, zeig uns, wie!”
    „Das kann ich erst dann, wenn meine Zeit gekommen ist.” [...]

(1976)
Aus dem Lettischen von Matthias Knoll


Originaltitel: Eþapuíe
Riga: Liesma, 1977

Gesamtumfang der Übersetzung:
5.497 Zeichen / 4 Normseiten, publikationsfertig
Umfang der Leseprobe: 2.067 Zeichen (38%)
© Matthias Knollwww.literatur.lv