Pauls Bankovskis

Spitzel, Schnaps & Rock ’n’ Roll

Roman (Auszüge)

Aus dem Lettischen von Matthias Knoll


1. Teil: 1978-1979

Herbst

[...]
3

Im Gegensatz zu Männern hören Frauen gerne zu; selbst, wenn sie nichts verstehen; selbst, wenn das Gesagte sich als Lüge erweist; man muß vorgeben können, viele Bekannte zu haben; die Gäste in den Cafés im Vorbeigehen grüßen und die Kellner duzen; wenigstens ein Musikinstrument einigermaßen erträglich spielen lernen; es ist klug, sich Melodien einzuprägen, die bekannt erscheinen, jedoch nicht allzu häufig im Radio gespielt werden. Joren sah Eva an und lächelte. Im Laufe der Jahre hatte er eine spezielle Umgarnungs­taktik entwickelt.
     „Ich würde eine Margarita empfehlen“, sagte Joren, obgleich er bemerkte, daß sie ihn nicht verstand. „Wird dir schmecken. Ganz bestimmt.“
     Er krempelte die Ärmel seines gestreiften Matrosensweatshirts hoch, klappte das bierverklebte Klavier auf und begann zu spielen. Ganz einfache Liedchen. Die Gäste des Cafés waren begeistert.

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Auf den U-Bahnhöfen der ganzen Welt weht ein Geruch nach warmem und öligem Staub. Sie gelangten auf die gestirnte Erdoberfläche und sogen die klare, kühle Luft ein. Eine Lautsprecherstimme hatte daran erinnert, daß dies der letzte Zug und der letzte Bahnhof sei, die Türen rappelten zu, der Zug tauchte in die Dunkelheit und fuhr eilig weiter nach Norden in den Osten. Dorthin, wo sich unter Straßen und Gebäudefundamenten unbelebte Geisterbahnhöfe verbargen.
     In der Nähe des Anhalter Bahnhofs hatte sich die gerillte Gummisohle von Evas Absatz gelöst und war abgefallen, die Schritte klackten auf dem Asphalt wie ein hinkendes Metronom. Der Wind trug Moderduft vom Tiergarten herüber, unter den Füßen knackten die Eicheln. Allmählich rötete sich der Horizont. Jorens Blick verweilte bei den schmalen Lippen und einem winzigen Leberfleck über dem Mundwinkel.
     Sie hat so blasse Haut.
     Eva lächelte und strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Der Himmel wurde immer heller. Evas Hand tauchte in die von Joren. Sie stiegen hölzerne Stufen empor und blickten über die Mauer. Am hellen Himmel verloschen allmählich die Signale Ost-Berlins, der Tag kam herangebraust. Jenseits der Mauer dräute die Sil­houette des Branden­burger Tors. Hunderte von Kilometern hinter diesem Tor befand sich Evas Zuhause. Sie sprach weder Französisch noch Englisch oder Deutsch, auch nicht Arabisch. Eva war die erste Frau, auf die Jorens Geschichten wie sinnloses Wassergeplätscher wirkten. Eva drehte der Mauer, ihrem Zuhause und dem Osten den Rücken zu.
     „Luna romantièeskaja“, deutete sie empor. Wie ein weißer Knopf funkelte ein runder Mond am samtig blauen Himmel. Eva versuchte, ihre frierenden Finger in den Ärmel­bündchen des Pullovers zu wärmen.
     „Luna romantièeskaja“, wiederholte Joren langsam. Er konnte nur ein paar Worte Russisch.
     Der winzige Leberfleck berührte Jorens spröde Lippen. Sie entnahmen einander aus den Augen Himmelsproben. Der Boden stieß sich von Evas Zehenspitzen ab. Von der anderen Seite der Mauer observierten sie mißtrauisch zwei ostdeutsche Grenzschützer.

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Als er in sein Zimmer im Studentenwohnheim zurückgekehrt war, warf er einen Blick in den Spiegel und erstarrte. Bisher war Joren überzeugt gewesen, daß er seiner Mutter ähnelte. Er stand in einer fremden Toilette am Waschbecken und entdeckte hinter der bekannten Maske seiner Gesichtszüge das Antlitz seines Vaters. Nach ein paar Sekunden verflüchtigte sich die Vision. Er glich wieder seiner Mutter
. [...]

4

Ich mag große, schlanke Männer mit kräftigen Beinen und ausgeprägtem Kinn; ich mag Importwaren; ich siege gern, mag es, Schokoladenkonfekt zu essen (besonders die Sorten Vâverîte und Sarkanâ magone) und in die Badewanne zu gehen; mag Holzfeuerduft, Hunde, Katzen und überhaupt Tiere; ich mag die Lieder von Raimonds Pauls und den Frühling, auch sonnige Tage.
     Ich mag keine dicken Männer und fetten Hintern; angepinselte Frauen und Diesel­gestank; Menstruation und Menschen, die auf die Straße spucken oder lügen, Kopf­schmerzen, Schnupfen und Nebel, Armeeleute und hochhackige Schuhe, Dauer­wellen und geblümte Morgenröcke; schwarzen Kaffee und Schnaps, Kefir und rohes Fleisch, verka­ter­te Körperausdünstungen und Zahnärzte.

     Eva betrachtete verträumt die Parfumschachtel, die Joren ihr im KaDeWe gekauft hatte. Echtes französisches Parfüm. Mit den Fingerspitzen berührte sie die Buchstaben C, H, A, N, E und L.
     Der glänzend weiße Karton, die Falzstellen und der Aufdruck ähnelten den Kindheits­erinnerungen ihres Vaters, in denen alles überirdisch ordentlich, harmonisch und in sorgfältig abgewischten Schubladen verstaut war. Die gute, alte Ulmanis-Zeit, sagte Vater träumerisch. Damals in der Ulmanis-Zeit... Eva war sich nicht im klaren darüber, worin sich jene Zeit von der jetzigen unterschied. Für sie war ,Ulmanis-Zeit’ ein Synonym für das Wort ,alt’.

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Sobald das Fahrwerk sämtlicher Wagons gewechselt war und der Zug die Stachel­draht­grenze überquerte, hinter der die freundschaftliche und halbwegs bekannte Welt des Sozialismus endete und das barbarische Dickicht des Kapitalismus begann, erfaßte Eva Furcht; seit den ersten Grundschulklassen wußte sie, daß sich hinter dem äußeren Glanz Hunger, Not und Verbrechen verbargen; der einzige Ort, an dem sie sich einigermaßen sicher fühlte, war das Schwimmbecken des Olympiastadions; und die Umkleideräume, die fast die gleichen waren wie andernorts; vielleicht sauberer, heller und duftender; die selige Mattigkeit jedoch, die sich nach dem Training in den Körper schlich, wenn sie unter der heißen Dusche stand und sich dem Aufprasseln unzäh­liger feiner Wasser­strahlen hingab, war genau dieselbe wie in Riga, Moskau oder Prag.
     „Kallas, bist du verrü...“, rief ihre Teamkameradin Ïuda; der Ruf wurde von einer nöligen Stimme unterbrochen, die zum Zurückbleiben aufforderte; die Türen schlossen sich, der Zug mit ihrer Mannschaft rauschte in die Unterwelt; erst als sie ans Tageslicht gelangt war und vor dem Bahnhof Zoo herumstand, wurde Eva klar, daß sie nicht wußte, wo sie sich befand; allein inmitten einer feindlichen Welt.
     Neben ihr sagte jemand etwas; wahrscheinlich auf deutsch; die Frage verstand Eva nicht, ergriff jedoch sicherheitshalber die Flucht; Bremsen kreischten; jemand packte sie am Ellenbogen und riß sie zurück; der Fremde lächelte.
     „Pateicos“, murmelte Eva.
     Er hob wieder an zu sprechen; Eva zuckte unentschieden mit den Schultern; sie näherten sich einer Kirchenruine; in einem schimmernden Schaufenster, inmitten von Spiegeln, Kristall und Glühlampen ruhte auf einem kleinen Kissen ein weißes Papp­schächtelchen, und Eva begriff, daß ihr restliches Leben ohne diese Schachtel sinnlos sein würde.


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„Mach’ das Licht aus!“ Genervt warf sich Ïuda auf die andere Seite.
     Durch einen Spalt in den dichten Vorhängen blinzelte die Sonne.
     Während sie in den Schlaf glitt, hörte Eva ...

5

Dsjuba, der Arzt der Schwimmstaffel der UdSSR, trat außer Atem vor der Zimmertür des Cheftrainers auf der Stelle und klopfte verzweifelt. Das Klopfen hallte in den leeren Korridoren des Wohnheims wider. Dsjuba sah sich verstohlen um, sein linkes Augenlid zuckte nervös. Es schien, als ob das ganze Haus von dem Getöse aufwachen würde, aber bislang war nicht das geringste Lebenszeichen zu bemerken. Auch im Zimmer des Trainers herrschte Totenstille.
     „Bljadj, wer hämmert da rum?“ ließ sich nach einer Weile eine belegte Stimme vernehmen.
     „I-I-Ich bin’s.“ Vor Aufregung wurde Dsjuba von seinem in früher Kindheit erworbenen Sprachfehler heimgesucht. Das ungehorsame Augenlid war ein angeborener Tick, der Dsjubas Gesicht je nachdem komisch oder ziemlich bedrohlich wirken ließ. Er legte den Kopf schief und lauschte. Obgleich zwischen den dunklen, angegrauten Haaren die nackte Kopfhaut hervorschimmerte, gelang es Dsjuba mit Hilfe seines Friseurs und sorgfältiger Pflege, die Illusion aufrechtzuerhalten, daß es bis zur Glatze noch ein weiter Weg war. Vorläufig hatte es den Anschein, daß der Haarausfall nachgelassen hatte. Die Frisur war konserviert.
     Auf einem Bein hüpfend versuchte der Trainer seine Hosen anzuziehen, stolperte und fluchte ungehalten. Irgend etwas fiel um und zerbrach.
     „Ivan Ma-Ma-Mametoviè, es ist etwas ge-geschehen...“ Dsjuba versuchte, sich in Ivan Mametoviès Zimmer zu zwängen.
     „Ich werde Ihnen das sofort erklären, Fjodor Jeisejeviè.“ Ivan Mametoviè versuchte, Dsjubu mit seinem nackten, kantigen und von schwarzem Brusthaar bedeckten Torso zurückzuschieben. Obgleich die Muskeln des Trainers allmählich ihre Spannkraft verlo­ren, war er auch mit fünfzig Jahren noch eine imposante Erscheinung.
     Schon in Moskau war dem Trainer klargeworden, daß Dsjuba ebensoviel von Sportmedizin verstand wie er von Ballett. Dennoch hatte er den Eindruck, daß es keinen Grund zur Besorgnis gab. Die Leistungen, die seine Mannschaft im Laufe des letzten Jahres erbracht hatte, durften wieder als hervorragend bezeichnet werden. Ein ähnliches Schicksal wie das seiner Vorgänger drohte Ivan Mametoviè nicht. Während der Olympischen Spiele in Barcelona und später in München hatten die Eliteschwimmer der UdSSR weniger Medaillen eingeheimst als in Utrecht. Die Schuldigen wurden mit einem kräftigen Arschtritt abserviert. Es rollte ein Kopf nach dem anderen. Selbst in seinen furchtbarsten Delirien vermochte Ivan Mametoviè nicht zu prophezeien, daß seine Karriere etwas derart prosaisches und idiotisches ereilen wird.
     Der Trainer blinzelte unablässig mit seinen schmalen, von den kasachischen Step­pensöhnen geerbten Augen und wendete verzweifelt den ungewöhnlich runden Kopf hin und her (der ihm den Spitznamen ,Schneemann’ eingebracht hatte).
     Dsjuba reckte sich auf die Zehenspitzen empor, warf über die Schulter des Trainers einen Blick in das Zimmer und erfaßte voller Schadenfreude, weshalb in Ivan Mame­toviès Augen Panik aufgeblitzt war. In dem zerwühlten Bett machte er zwei Geschöpfe mit zerzaustem Haar aus – eine Blondine und eine Brünette. Als sie Dsjuba erblickten, glitten ihre Mienen in ein idiotisches Lächeln. Dsjuba entschied, daß die Dunkelhaarige gar nicht übel war.
     „Das ist ein Mißverständnis, ein Irrtum“, nuschelte Ivan Mametoviè und ahnte nicht einmal, daß der Irrtum in Wirklichkeit ziemlich am Dampfen war. In Wirklichkeit überwachte Dsjuba (der übrigens doch ein wenig von Medizin verstand, denn in Kiew hatte er dereinst mit dem Gedanken gespielt, Sanitäter zu werden) schlichtweg sämtliche Mitglieder der sowjetischen Delegation. „Darf ich bekanntmachen – Fjodor Jeise­jeviè, Genossin Hanna und Anna...“
     „Da-Da-Darüber sprechen wir ein andermal“, gab Dsjuba barsch zurück. „Ziehen Sie sich an.“

6

Eva ging in die Hocke, sprang, beschrieb einen eleganten Bogen und tauchte geräuschlos in die bläuliche Tiefe; sie glitt dahin, ohne die Arme oder Beine zu bewegen; das Mädchen hatte sich in einen großen Fisch, einen tauchenden Vogel verwandelt, der mit angelegten Flügeln wie ein Stein immer tiefer und tiefer hinabschoß; der Himmel verströmte ein gleichmäßig flirrendes Licht; neben ihr bummelte Joren herum; er paddelte wie ein Hund, prustete komisch und strampelte verzweifelt im Wasser...

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... wie jemand beharrlich klopfte. Eva saß senkrecht im Bett.
     „Ïuda, ich hab’ Angst.“
     „Spinn’ nicht rum“, brummte Ïuda und glitt aus dem Bett. Manchmal hatte Eva den Eindruck, daß das sommersprossige Mädchen (in Ïudas Gesicht gab es derart viele Sommersprossen, daß es mitunter wie Sonnenbrand oder eine Hautkrankheit aussah) ihr böse gesinnt war. Als ob es Evas Schuld wäre, daß Ïuda nur zwei Silbermedaillen gewonnen hat, sie hingegen schon drei und einmal Bronze.
     „Bljadj, wo ist die Callas?“ In das Zimmer der Mädchen stürmten Ivan Mametoviè und ein Typ, den Ïuda als Spitzel bezeichnete. Das steht denen auf der Stirn geschrieben. Trotzdem konnte man Ïuda nicht glauben; für sie lauerte an jeder Ecke ein Spitzel. Sie sind hinter mir her.
     „Hier“, meldete Eva sich zaghaft. Wenn der Trainer jemanden lediglich beim Nachnamen anredete, dann standen große Unannehmlichkeiten ins Haus.
     „Du wirst morgen, besser gesagt, heute nicht an den Wettkämpfen teilnehmen“, teilte Ivan Mametoviè mit. „Und übermorgen auch nicht.“
     „Aber...“ hauchte Eva.
     „Bljadj, hast du gehört, ja? Und bis zur Abreise keinen Schritt aus dem Hotel!“ Ivan Mametoviès Stimme überschlug sich. Der Trainer wandte sich ab, in den Augen des untersetzten Mannes regte sich ein verräterischer Glanz. Er begriff, daß er in diesem Augenblick auch über sich selber das Urteil gefällt hatte. Ohne Goldmedaille – einerlei, ob Eva Callas oder Ïuda Berjoskina sie erringen würde – durfte er sich in Moskau nicht blicken lassen. Und niemand außer Eva war in dieser Meisterschaft fähig, eine zu holen. Dsjuba stiefelte zum Spiegel und stopfte sich Evas Parfumschachtel in die Tasche. Auf die Knöchel seiner rechten Hand waren die Buchstaben F, E, D, J und A tätowiert. Eva schickte sich an zu protestieren, aber ein kratziger Tränenklumpen schnürte ihr die Kehle zu. Sie zog sich die Decke über den Kopf und rollte sich zusammen.
     „Keinen Schritt vor das Ho-Ho-Hotel“, schärfte Dsjuba ihr ein, zwinkerte der überraschten Ïuda zu und ließ die Tür hinter sich zuknallen.

7

„Alles hat reinlich und ordentlich zu sein,so daß man sich nicht schämen muß, einen Engel ins Haus zu bitten“, sagte der Vater.
     „Will er denn herkommen?“ bohrte der unansehnliche kleine Junge.
     „Vielleicht ist er ja schon bei uns gewesen.“
     „Warum kann man ihn nicht sehen?“
     „Man kann nie wissen, wann es ihm gefällt zu erscheinen.“
     „Unsere Zeit ist anders.“ Der ergraute Mann hatte von seinem Vater (der Schlächter und Schriftgelehrter gewesen war) den Hang zum Grübeln geerbt. „Wir vermögen ihren Fluß zu regulieren; merke dir, die Zeit hat Geschmack, Duft, Breite, Länge, sogar Gewicht; schau, Proust hat sein ganzes Leben lang über die Zeit geschrieben; er nahm den Geschmack der verlorenen Zeit in einem gewöhnlichen Keks wahr; wir können Zeitbrücken bauen und formen künstliche Inseln; wir sind dem Geheimnis der Zeit ganz nahe gekommen, und deshalb liebt uns niemand.“
     „Da ward aus Abend und Morgen der sechste Tag.“ Der Vater goß sämigen, süßen Wein in die Gläser und sang den Kiddusch. Alle setzten sich schweigend an den Tisch; er segnete das Brot.


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Joren erwachte erst am Nachmittag. Verbrachte ein paar Stunden in der Badewanne. Schlief fast ein. Ließ hin und wieder heißes Wasser nach- und das bereits abgekühlte ablaufen. Und wartete auf den Abend. Das einzige, woran er denken konnte, waren der Duft und Geschmack von Evas Lippen, die Arme des Mädchens, die sich um seinen Hals gelegt hatten, die Wärme des zarten Körpers, die in der Dämmerung glänzenden großen Augen und die hellen, zu einem Pferdeschwanz zusammengefaßten Haare.
     Ich weiß nicht einmal, was sie beruflich macht, murrte der vernünftige Joren, derjenige, den Onkel Joren buchstäblich mit Gewalt gezwungen hatte, die Hochschule redlich zu absolvieren. Na und, zuckte derjenige, dessen Blicke jeder gutaus­sehenden Passantin folgten, mit den Schultern. Da wär’ sie weder die erste noch die letzte.
     Nein, das ist nicht wahr, schrie der Vernünftige fast auf. Sie ist anders. Du hast dich doch nicht etwa verliebt? mischte sich noch ein Dritter ein, derjenige, der für gewöhnlich tiefsinnig schwieg und schmerzlich lächelnd alles bezweifelte. Hört auf! Joren brachte die durch den Kopf spukenden Stimmen zum Verstummen und ließ sich aufs Bett fallen.
     Das Mädchen stand an einer Straßenkreuzung herum und sah aus wie ein Tier, das in einem plötzlichen Erahnen der Freiheit nicht weiß, in welche Richtung es sich wenden soll. Joren kannte diesen Blick und den Gesichtsausdruck, in dem das Erstaunen von Trotz getrübt wird und Angst sich mit Begeisterung mischt. Die sowjetischen Touristen streiften wie geblendete Pilger durch die unverhältnismäßig breiten Straßen Ost-Berlins; wer entsprechende Papiere hatte, wagte sich mitunter auch auf die hiesige Seite der Mauer und sog ängstlich und begierig einen jeden Krümel, Duft und Klang in sich auf.
     Und du selber? Bist du auch nur um ein Haar besser? Du bist genauso wie diese unglücklichen Figuren; Eva ist für dich ein exotisches Wunder; kurios; ein hübsches kleines Ding; ein Souvenir, murrte der Skeptiker wieder.
     Schon möglich, daß er recht hatte. Teilweise. Joren ahnte undeutlich, daß diese Unruhe und Schwärmerei vielleicht von einem jahrhunderte-, jahrtausendealten Wissen geschürt wurde, einem Wissen, das nicht in den Hirnzellen gespeichert war, sondern im Blut, in den Knochen, in den tiefsten Fundamenten des Menschen verborgen lag, und das ihn antrieb, seine andere Hälfte weit weg von zu Hause, in der Fremde zu suchen. Bis ans Ende der Welt segeln, sieben Meere und sieben Länder umfahren und jene Wer-weiß-schon-welche mitbringen, erbeutet auf einem Feldzug, aus den Fesseln befreit im Turm des Schlosses eines Scheusals. Es war die gleiche Leichtsinnigkeit, mit der seine Mutter für „Je t’aime... moi non plus“ geschwärmt und sich damit Großmamas Mißbilli­gung zugezogen hatte. Eva war aus einer anderen Welt bei ihm gelandet; sie hauste hinter den sieben Bergen, jenseits der Schwelle der Welt, im geheimnisvollen Herzen des Nirgendwo.
     Frisches Blut, grinste der Skeptiker. Du bist auf der Suche nach frischem Blut. Eva war eine Fremde, sie konnten nicht miteinander reden, sie sprach eine unverständliche Sprache und dachte Gedanken, die Joren nicht erfassen konnte. Eva war von einem anderen Stern gekommen, machte Joren machtlos und zog ihn an.
     Der Nachrichtensprecher im Fernsehen berichtete, daß arabische Terroristen ein Flugzeug entführt und Geiseln genommen hatten. Arme Teufel.

     „Aus der Meisterschaft ausgeschieden ist Eva Callas. Obgleich sie eine der Haupt­anwärterinnen auf die Goldmed...“ Auf dem Bildschirm blitzte Evas Foto auf. Joren schaltete um und begriff erst nach einem Augenblick, daß auf dem verschwommenen Schnappschuß dasselbe Mädchen zu sehen gewesen war, das auf dem Aussichsturm an der Mauer vom Mond geschwärmt hatte.
     Vielleicht ist dies der Beweis für die Existenz Gottes?

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Bis zum verabredeten Zeitpunkt, den Joren auf eine in zwei gleiche Hälften gerissene Zigarettenpackung gekritzelt hatte, war es noch eine knappe halbe Stunde. Erst hatte Eva gedacht, daß Joren mit ihr die Adressen austauschen wollte. Als Joren mit großen Blockbuchstaben die Uhrzeit ihres Wiedersehens auf die Gauloisesschachtel schrieb, schüttelte sie ungehalten den Kopf, riß ihm das Papier aus der Hand und malte in verschnörkelter Schülerschrift eine Adresse auf. Eva gab nicht Ruhe, bis Joren auch seine Anschrift auf der anderen Hälfte notiert hatte.
     Er stand am U-Bahnhof Wittenbergplatz und rauchte. Langsam dämmerte es. Danach wurde es dunkel. Straßenlaternen und Autolichter gingen an. Die eine Stimme behauptete noch immer voller Optimismus, daß Eva kommen würde, die andere kicherte, daß Joren vergebens wartete. Er tat so, als würde er nicht zuhören. Und hörte nicht, wie im Zeitmechanismus etwas knackte, brach und die Zahnräder quietschend stehenblieben. Engel zeigten sich keine.

8

„Schwimmen ist eine der ältesten Sportarten“, machte Tennu Callas die Anfänger mit einem kurzen Einblick in die Geschichte bekannt. „In Turin befindet sich ein mindestens 3000 Jahre altes Hochrelief, auf dem ein brustschwimmender Mann dargestellt ist; der erste echte Schwimmwettkampf fand erst nach 1877 statt; als 1894 das Programm der Olympischen Spiele verabschiedet wurde, avancierte das Schwimmen zur olympischen Disziplin; bis zum Jahr 1912 war es ein Privileg der Männer und mehrere Jahrzehnte lang eine Sportart ohne feste Regeln; die Wettkämpfe wurden in offenen Gewässern ausgetragen, ohne deutlich markierte Bahnen, manchmal sogar ohne Start- und Ziellinie; bei der II. Olympiade in Paris haben sich mehrere Schwimmer verirrt und sind in die falsche Richtung geschwommen.“

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Eva lernte früher schwimmen als lesen und wurde ihrer Mutter allmählich immer ähnlicher. Tennu war darüber sowohl beglückt als auch betrübt. Þanete, die Frau des Schwimmtrainers vom Daugava-Sportzentrum, war ein paar Tage vor Evas zweitem Geburtstag ertrunken. Wie sich herausstellte, konnte das angetraute Weib des ehemaligen Junior­champions und Sportmeisters der Estnischen SSR nicht schwimmen. Wahrschein­lich hatte Þanete deshalb panische Angst vor Wasser gehabt: sie blieb stets in sicherer Ent­fernung vom Schwimmbecken und stieg sogar in die Badewanne nur zum Duschen.
     Seitdem ging Tennu sowohl alten Fotografien als auch Erinnerungen aus dem Weg. Er machte ausschließlich sich selbst für den Tod seiner Frau verantwortlich. Das Unglück geschah an ihrem Hochzeitstag, einem drückend heißen Tag im Juli, als Tennus Freunde die beiden lachend ins bläuliche Wasser des Schwimmbeckens schubsten. Zunächst sah es aus, als würde Þanete Faxen machen. Sie strampelte verzweifelt im Wasser herum und rief um Hilfe. Kurz darauf ermattete sie und glitt langsam in die Tiefe, dem gefliesten Boden des Beckens entgegen, auf dem sich trüber Schlamm abgelagert und in den ein Scherzkeks mit dem Finger drei Buchstaben des kyrillischen Alphabets gezogen hatte. Tennu tauchte hinab, noch jemand sprang ins Wasser. Als Þanete kurz darauf am Beckenrand lag, sah es so aus, als ob ihrem Leben keine Gefahr drohen würde. Man begann, sie künstlich zu beatmen, der Arzt des Sportzentrums eilte herbei, aber sämtliche Mühen erwiesen sich als vergeblich. In dem plötzlichen Schrecken hatte Þanetes Herz einen Satz gemacht und war zwischen Himmel und Erde hängen­geblieben. Als Andenken an ihre Mutter blieb Eva ein fest geflochtener dunkler Zopf – bis ans Ende seines Lebens bewahrte Tennu ihn in einer leeren Konfektschachtel zwischen Fotoalben und in Seidenpapier gewickeltem Tannenbaumschmuck auf.
     „Wurde Mama der Zopf abgeschnitten, als sie schon tot war?“ bohrte Eva als Kind.
     „Unsinn.“
     „Wann denn dann?“
     „Wie oft soll ich es dir denn noch sagen; sie hat ihn sich selber abgeschnitten“, gab Tennu ärgerlich zurück.
     „Selber?“
     „Ja, in der letzten Klasse der Mittelschule.“
     „Und danach habt ihr euch kennengelernt?“
     „Ja, danach haben wir uns kennengelernt.“
     „Warst du das, der Mama den Zopf abgeschnitten hat?“ fragte Eva nach ein paar Wochen.
     „Nein; ein Friseur.“
     „War Mama da schon tot?“
     Eva lief nicht Gefahr zu ertrinken. Ihr gelang das, wovon Tennu in seiner Jugend nur geträumt hatte und was er später in der Schublade für in Erinnerungen verwandelte Jugendideale aufbewahrte. Sie wird zweifellos Europameisterin werden und bei der nächsten Olympiade siegen.


[...]

9

Dsjuba begleitete Eva bis zu der Schlange, die vor dem Dokumentenkontrollfensterchen auf der Stelle trat, und winkte sogar. Sie sahen aus wie ein Ehepaar oder zwei Verliebte, die sich trennen müssen, und die den Schmerz durch einen langen Abschied nicht noch schlimmer machen wollen. Bisher war sie nur mit der Bahn oder dem Bus gereist, und deshalb ergriff sie, als sie auf der Gangway stand und in den silbrigen Flugzeugrumpf eintauchte, die gleiche weihevolle Furcht wie in dem Moment, als sie die ersten Schritte auf der westlichen Seite der Berliner Mauer gemacht hatte. Dröhnend heulten die Motoren auf, die Landschaft vor dem Fenster jagte immer schneller und schneller vorüber, die Nase der Maschine richtete sich empor, und dieselbe Kraft, die Eva tiefer in den Sitz preßte, ließ den bedrohlich vibrierenden Kasten aus Eisen, Kunststoff und Aluminium sich von der grauen Startbahn losreißen und in mehrere Kilometer Höhe, in klirrende Kälte erheben. In den Eingeweiden des Flugzeugs knackte, säuselte und jaulte es geheimnis­voll. Auf Evas Ohren legte sich ein Druck, in der Magengegend grummelte es, und sie wickelte einen Bonbon aus dem Papier.

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Was habe ich eigentlich verbrochen? Sie haben mich über Joren ausgequetscht; fragten, worüber ich mich mit ihm unterhalten und was ich ihm erzählt habe; weshalb glaubt mir niemand?
     Wie wollt ihr euch denn unterhalten haben, wenn ihr die Sprache des anderen nicht verstanden habt?
     Warum hat er Ihnen Parfüm geschenkt?
     Hat er versucht, Sie zu überreden, im Westen zu bleiben?
     Wie sollte Eva erklären, daß sie sich fast ohne Worte verstanden haben?
     Und wie soll sie das alles ihrem Vater beibringen?


Lettischer Originaltitel: Èeka, bumba & rokenrols
[Tscheka bzw. KGB, (Atom-)Bombe bzw. „Bowle“ (billiger, mit Schnaps gepanschter Wein) & Rock ’n’ Roll]
Roman, 304 S. - Riga: Apgâds Valters un Rapa, 2002
© P. Bankovskis

© der deutschen Übersetzung M. Knoll
Erschienen als kostenlose Informationsbroschüre des LLC, 2004

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