Andra Neiburga

Elina ist glücklich

Erzählung


Elina kommt aus dem Kino, aus der Nachmittagsvorstellung, und jetzt geht sie zu Ratte. In dem Film ging es um Liebe, ein ausländischer Film. Elina kann sich nur nicht an den Titel erinnern. Vielleicht gehen Elina unter dem Eindruck dieses Films jetzt solch ungewohnte Gedanken durch den Kopf. Über die Liebe. Man kann sagen, daß man liebt, man kann es aber auch lassen. Das hängt vom Charakter ab. Vom Temperament vielleicht. Und noch von vielem mehr. Aber fühlen müßte man es vielleicht schon. Irgendwie. Die Beziehung zwischen Elina und Ratte hat eine sachliche Note, was daran liegt, daß Ratte schrecklich beschäftigt ist und Elina unendlich faul. Ungefähr so: Morgen. Von fünf bis acht. Bis sieben? Also gut. Oder aber: Gehen wir ins Bett.
    Liebe oder nicht Liebe? Interessant. Elina geht die Leninstraße¹ entlang zur Autobushaltestelle. Ratte wohnt in Biíernieki². Ihre träge Langsamkeit zu dieser geschäftigen Nachmittagsstunde wirkt offensichtlich störend auf die anderen Passanten. Immer wieder wird Elina angerempelt und beschimpft, ein Mann, dessen Regenschirmgriff sich in ihrem Mantel verfangen hat, zieht sie sogar ein Stückchen mit. Aber Elina fühlt sich weder besonders gestört noch verletzt. Sie geht und bemerkt wie gewöhnlich nur wenig von dem, was um sie her geschieht. Nur als sie in einen Kinderwagen läuft, der vor einem Geschäft steht, sieht sie ein Baby, eingewickelt in eine schrecklich blaue Steppdecke. Wie der Himmel heute - schrecklich blau. Hoch. Aber kein Schnee. So große Sehnsucht nach Wärme. Elina schießen Tränen in die Augen. Elina, die Heulsuse. Das wissen alle, die sie kennen. Außer Ratte. Bei Ratte will sie nicht weinen. Und trotzdem, wenn Elina aus dem Haus kommt, in dem Ratte wohnt, fühlt sie sich gewöhnlich, als hätte sie stundenlang geweint. Wer oft weint, der kennt das komische Gefühl danach - ungefähr wie reiner Atem. Oder wie angenehmer Schmerz. Oder wie resignierte Zufriedenheit, wie gleichgültige Traurigkeit. Und ein Gefühl von Freiheit. Einen kurzen Augenblick danach.
    Kaum zu glauben, daß Elina als Kind gar nicht so weinerlich war. Sie selber glaubt es auch nicht mehr so recht. Aber Großmutter behauptet es. Bei der Großmutter verbrachte Elina die ersten fünf Jahre ihres Lebens. Mama hatte damals einfach keine Zeit für sie. Mama lernte. Von einem Vater hatte Elina überhaupt nie gehört. Zugegeben, darüber regte sie sich schon lange nicht mehr auf. Von wegen wichtig. Wieviele sogenannte „Vollfamilien” gibt es denn schon noch. Ja, bei Großmutter soll sie ein ganz fröhliches Mädel gewesen sein.
    Aber dann schloß Mama ihre Ausbildung ab und nahm die Tochter zu sich. Schlecht war es ja nicht. Wirklich, alles bestens. Wenn man außer acht läßt, daß Mama selten zuhause war. Vielleicht hat Elina damals mit dem Weinen angefangen. Danach ging sie ein paar Jahre in eine gewöhnliche Schule, bis ein neuer Mann bei Mama auftauchte, und sie ins Internat gesteckt wurde. Wohnung zu klein - ein Zimmer. An diese Schule hat Elina nur schlechte Erinnerungen bewahrt. Widerlich. Elina schüttelte sich geradezu, wenn sie an die langen, mit grüner Ölfarbe gestrichenen Gänge dachte. Die feuchten Laken. Das frühe Aufstehen und die Prügeleien der blöden Zimmergenossinnen am Abend. Niemals konnte man dort ausschlafen. Und dann noch diese schreckliche Baiba. Brr. Wenn sie es bedenkt, dann hatte sie zuhause noch von Herzen geweint. Im Internat wurde das Weinen zur Gewohnheit. Wie lange war sie da gewesen? Vier Jahre? Fünf? Schon vergessen. Dann lebte sie wieder eine Weile bei Großmutter. Und dann wieder bei Mama. Bis heute. Der neue Mann war mit einer neuen Frau verschwunden, und jetzt gab es auch genug Platz für Elina. „Was bist du nur quengelig geworden”, regte sich Mama auf und begann Elina zu erziehen. Bemühte sich, das Versäumte nachzuholen. Schimpfte ununterbrochen und kaufte Elina ununterbrochen neue Sachen. Diese Dressur war ihr zuwider. Elina war es gewohnt zu leben, wie es ihr paßt. Aber nichts zu machen. Man muß es hinnehmen. Vorerst einmal hinnehmen. Von irgendetwas muß man ja leben. Und arbeiten will Elina noch nicht, keinesfalls. Wozu denn, es geht doch auch so.
    Elina sieht auf die Uhr. Halb fünf. Eine Quarzuhr. Ein Geschenk von Ratte.
    Ach Gott, wenn Mama wüßte!
    Aber Mama weiß nichts. [...]


¹ Ïeòina iela, seit 1991 wieder Brîvîbas iela (Straße der Freiheit), die Rigaer Magistrale
² Biíernieki: Vorort von Riga, etwa 10 km östlich vom Zentrum

1986
Aus dem Lettischen von Matthias Knoll


Lettischer Originaltitel: Elîna ir laimîga
Erschienen in: Izbâzti putni un putni bûros [Rîga: Liesma, 1988], S. 52 ff.

© der deutschen Übersetzung M. Knoll
Erschienen in: wespennest Nr. 128, S. 45 - 47
Gesamtumfang: 19.629 Zeichen / 11 Normseiten  |  Frei zur Verwertung
Umfang der Leseprobe: 4.321 Zeichen (22%)

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