Schlange im Garten Eden

Der junge lettische Regisseur Viesturs Kairiss ist mit dem New Riga Theatre
und seiner Produktion „Serpent” zu Gast im Hebbel-Theater

Von Carola Dürr

 

„Bei uns in Lettland existiert eigentlich nur noch die junge Generation. Die alte hat nichts mehr zu sagen.” Ein triumphierender Blick begleitet die Worte des 29-jährigen lettischen Regisseurs. Seit er vor fünf Jahren zum ersten Mal inszenierte, hat er sich weit nach oben gearbeitet. 1997 kommt er zum New Riga Theatre (NRT), als dies von einer jungen Truppe unter dem künstlerischen Leiter Alvis Hermanis, Jahrgang 1965, übernommen wird. Ein frisches Ensemble, experimentierfreudige Regisseure und zwölf Premieren in der ersten Spielzeit: in Berlin ruft das Assoziationen wach. Kairiss inszeniert am NRT Texte von Eliade, Blaumanis und Dostojewski. Daneben kreiert er eine Performance für die EXPO '98 in Lisabon, inszeniert „Eugen Onegin” an der Lettischen Nationaloper und dreht drei Kurzfilme. 1999 wird er in Lettland zum Regisseur des Jahres gekürt.

Seit 1996 arbeitet er zusammen mit der ein Jahr jüngeren Malerin Ieva Jurjane, die bei ihm seither – parallel zu ihrer Malerei – für Kostüme und Bühnenbild verantwortlich ist. „Unsere Inszenierungen leben stark aus dem Visuellen. Wir entwickeln die Geschichten weniger auf der Text- als auf der Bildebene” erläutern sie ihre enge Künstlergemeinschaft. Alles entsteht aus der gemeinsamen Diskussion heraus, in die sie auch ihre Schauspieler einbinden. „Improvisation und Vitalität” ist ihre Arbeitsmaxime, jede Aufführung eine Weiterentwicklung des Konzepts. Was sie nicht reizt, wissen sie genau: politisches oder sozialkritisches Theater. „Davon gab es bei uns in der Sowjetzeit genug! Das will hier keiner mehr machen.”

Für seine Bilderwelten wählt Kairiss meist Prosatexte als Vorlagen. Er habe keine Lust, zum hundertsten Mal „Hamlet” oder „Die drei Schwestern” zu interpretieren. Prosaliteratur sei auch wesentlich bildhafter, entwerfe mehr optische Räume als die Dramatik mit ihrer Sprechtextlastigkeit. Auch seine neueste Produktion „Serpent” ist wieder eine Dramatisierung, und wieder hat sich Kairiss für einen Roman des Religionstheoretikers Mircea Eliade entschieden. Ein Ehepaar will die jüngere Tochter verheiraten und lädt nebst älterer Tochter und Schwiegersohn zwei junge Männer ein. Als sich die kleine Gesellschaft auf den Weg zu einem Picknick im nahegelegenen Kloster macht, gesellt sich ein junger Fremder zu ihnen. Er ist cool, sportlich, männlich und unterhaltend, hegt jedoch eine auffällige Affinität zu Schlangen und verfügt über rätselhafte Kenntnisse und Fähigkeiten: ein Mensch nicht nur von dieser Welt. Im nächtlichen Wald verwickelt er seine neuen Freunde in ein seltsames Pfänderspiel, das geheime Sehnsüchte weckt ...

Eliade hat sich in seinem literarischen Werk mit dem Freiheitsbegriff beschäftigt. Der Mensch sei ständig auf der Suche nach Erlösung, die ermöglicht werde durch die Erfahrung des Todes im Leben oder das ”Entrinnen aus der Geschichte”. Im Mythos und der Literatur sah Eliade die Chance, der vernichtenden Zeit zu entkommen und in ein geschichtsloses Leben zu fliehen. Was den Letten, dessen kulturelle Sozialisierung durch Filme von Herzog und Faßbinder mitgeprägt ist und der Castorf und Marthaler verehrt, mit dem Rumänen verbindet? „Ich sehe eine enge Parallele zwischen der Mythenwelt von Eliade und lettischen Legenden. In einem lettischen Märchen beispielsweise verläßt eine Schlange das Wasser, um sich ihre Braut zu holen und mit ihr ins Wasserreich zurückzukehren.” Mit Humor und Poesie erzählt Kairiss uns eine Geschichte, die heutig und doch zeitlos ist und in der das Irrationale in eine allzu rationale Welt einbricht: Unversehens finden sich die Figuren, die eben noch mit meterlanger Zahnseide um die akribische Pflege ihrer Beißer bemüht waren, in einen Zauberwald, einen Garten Eden versetzt.






Erschienen in: „Die Welt” vom 13. 4. 2000

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