Dace Rukðâne

Die unbegrenzten Grenzen der Liebe

Kolumne


„Existiert dasjenige, wonach ich streben sollte, nicht doch? Wo ist es zu suchen? Und hat dieses Unbekannte Grenzen oder Bedingungen?” schrieb ein Leser zu einer meiner SestDiena-Kolumnen, ohne allerdings im einzelnen darauf hinzuweisen, von welchen Grenzen die Rede sei. Mir kam es aus irgendeinem Grund so vor, daß er die Grenzen der Liebe meinte, denn beinahe alle anderen Fragen auf dieser Welt sind zumindest auf der Ebene der Wahrscheinlichkeit zu beantworten. Nicht so in Sachen Liebe.
     Und welche Rolle spielt es schon, was er eigentlich im Blick hatte, wenn es in mir unvermittelte Assoziationen zu den „Grenzen der Liebe” hervorruft. Wie jedes geschriebene Wort, das der öffentlichen Begutachtung übergeben wird, hat sich auch obiges Zitat von seinem Autor gelöst und behält sich das Recht vor, mit der Erfahrung, der Vorstellung und den Emotionen des Lesers zu spielen.
     Wahrscheinlich wird die Frage der unbegrenzten Grenzen der Liebe und der unmöglichen Möglichkeit der ewigen Liebe so lange aufgeworfen und erörtert werden, wie es menschliche Wesen auf der Erde gibt. Zugegeben, hauptsächlich im engsten Freundes- und Bekanntenkreis, denn nur selten hat man Gelegenheit, derart feine Seelenperipetien bei einem ersten Smalltalk zu ergründen.
     „Laß stecken, Schätzchen”, antwortete mir eine Freundin, „die Liebe – das sind nur Worte, die wir Frauen alle hören möchten, und die sterben, sobald der Alltag anfängt. Dann gibt es nur noch Abhängigkeit von der einen Seite und Ausnutzen von der anderen. Einer saugt sich an der Brust fest und der andere tanzt drumherum. Ob ich das noch will? Nein. Ich lebe lieber allein und liebe meinen Liebhaber. Nenn es Liebe, wenn du dieses Wort so unbedingt gebrauchen willst. Und mir geht es gut dabei. Na ja, meistens jedenfalls... Solange mich der Katzenjammer verschont... Aber dann stelle ich mir das Zusammenleben vor – dieses ständige Gezitter, die Aufregung um den anderen – und begreife, daß bei mir alles in bester Ordnung ist. Solange mich der...”
     Eine andere Freundin gibt trotzdem zu, daß sie an die grenzenlose Liebe glaubt, aber eine so große Distanz zu einem jeden einhält, der den Beweis führen könnte, daß es mir allmählich so vorkommt, sie sei zwei: eine, die lebt, und eine, die schon längst gestorben ist unter den Tag und Nacht quälenden Zweifeln. Sie ist unendlich gut gegenüber anderen, nie ist sie um ein liebevolles Wort, einen samtigen Rat, um Wärme verlegen. Für andere. Nur nicht für sich selbst, nicht für jene Liebe, die in ihr ist. „Ich habe Angst, mich wieder diesen Gefühlen hinzugeben, die die Knie weich werden lassen, wenn ich ihn auf der anderen Straßenseite sehe. Ich habe Angst, so sehr aufgewühlt zu werden, daß ich meine täglichen Pflichten nicht mehr erfüllen kann. Ich will nicht mehr – ach, was rede ich denn, ,wollen’ ist das falsche Wort: Ich kann nicht mehr. Jedes Mal, wenn sich mir eine Gelegenheit bietet, mich zu verlieben – zumal glücklich –, erstarre ich vor Angst und laufe weg. Es widert mich selber an, denn ich weiß, daß die Liebe bei einem selber beginnt, aber... So wie ich bin, kann ich mich nicht lieben. Irgendwann wird sich das doch ändern, oder?”
     Ich kann ihr darauf nicht antworten, denn durch meine Antwort würde sich rein gar nichts ändern. Kaum anzunehmen, daß ich ihr als idealer Ratgeber erscheine, denn auf meinen Händen sehen ihre Augen derzeit nur geschmolzenes Wachs und von rauhen Steinen abgeschürfte Haut. Deshalb flüstere ich ihr nur leise ins Ohr: „In dir, in dir, in dir...” – in der Hoffnung, daß dies plötzlich auf sie wirken wird wie die hypnotische Kraft eines Mantras, daß die Angst dahinschmilzt und ihren Flügeln beständige Flugfedern sprießen.
     Es sieht so aus, als ob ich wieder einmal nur von Frauen berichte. Falsch. Ich bin immer mehr davon überzeugt, daß dieses Thema eines ist, wo es keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern gibt: wir hoffen gleichermaßen, wir fürchten, flüchten und nähern uns einander gleichermaßen an. Vielleicht unterscheidet sich die äußere Form, wie es zum Ausdruck kommt, die Wahl der Worte, der Gesten – aber nur ein kleines bißchen, das Wesentliche unterscheidet sich nicht. Die obigen Zitaten könnte ich ebenso mit den Worten „Einer meiner Freunde” oder „Ein guter Bekannter von mir” einleiten – im Kern würde sich nichts ändern.
     Vielleicht kann man die Menschheit einfach in zwei Kategorien einteilen – in Glau­ben­de und Nichtglaubende. Sind wir genetisch vorprogrammierte Geschöpfe, bei denen nur et­was Angeborenes bestimmt, in welchem Maße wir den erlittenen Enttäuschungen erlau­ben, sich in die selbstkonstruierten Formen der Liebe einzumischen? Ich weiß es nicht.
     Vor vielen Jahren hat einmal ein Mann zu mir gesagt, daß ich zur falschen Zeit geboren bin, daß das jetzt nicht mehr Mode sei, daß man realistisch auf die Dinge zu schauen habe und nichts für ewig sei. Damals habe ich gedacht: Ist denn zu anderen Zeiten jemals etwas für ewig gewesen, wenn er schon über eine so berechenbare Dimension wie die Zeit spricht? Vielleicht bin ich ganz einfach in eine andere Welt geboren, in ein Paralleluniversum, das mir verbietet, an die Vernichtung zu glauben, an das letzte Ende, an die Fortsetzungslosigkeit. Oder aber ich bin mit einem Passierschein im Busen zur Welt gekommen – einem kleinen, rosa Ticket, das dazu berechtigt, in ein Flugzeug zu steigen, dessen Flug niemals endet. Und wenn ich das kann, dann bestimmt auch jemand anders – Hunderte, Tausende, Millionen anderer, und es ist ausgeschlossen, daß wir einander nicht begegnen.
     Mein Gott, dieses Gespräch fand vor zwanzig Jahren statt, und damals konnte man das als kindisch abtun, als Maximalismus der Jugend, einen von den Jahren noch nicht abgewetzten Idealismus – aber bis heute haben sich meine Ansichten nicht geändert. Sicher, man könnte sagen, daß ich ein Kindskopf geblieben bin und mich trotzig an Theorien festhalte, die einen von Zeit zur Zeit mit der Nase gegen die Wand rennen lassen. Aber wie sehr die Nase manchmal auch blutet, ich werde um nichts in der Welt den berauschenden Gefühlen entsagen, die der Flug auf den Flügeln eines Sonnen­strahls vermittelt.
     Wie sagte doch das Kaninchen: „Zurückgestoßen ist und bleibt zurückgestoßen.” Das entgegne ich der Erfahrung, die auf Biegen und Brechen davon zu überzeugen versucht, daß alles dem Tod geweiht ist. Lieber trödele ich, bleibe im engen ausweglosen Ausweg der Kindskopfigkeit stecken und erlaube keinem, mich in die Höhle zurückzustoßen. In die Höhle, die freilich voll ist vom süßen Honig der Zufriedenheit, aber ich weiß nur zu gut, daß einem von zu viel Honig das Kotzen kommt, und dann hilft nur noch geriebener Meerrettich.
     Wir werden mit Liebe im Busen geboren, und es ist einzig und allein uns selber überlassen, ob wir uns fürchten, in den Himmel zu kommen – um dort zu bleiben.

Aus dem Lettischen von Matthias Knoll


Erschienen in: SestDiena, 14.-20. 2. 2004, S. 43, Rubrik Sekss
© D. Rukðâne

© der deutschen Übersetzung M. Knoll
Umfang: 6.894 Zeichen / 4 Normseiten
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