Helçna Celmiòa

Memoiren
3. Band


1. Noch einmal ganz von vorn beginnen

Am 13. Juni 1966 traf ich in Riga ein – allerdings nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatten. Sie hatten mir eine Bahnkarte von Potjm nach Riga besorgt. Da ist nichts zu machen, in mordowischen Weilern gibt es keine Flugplätze, die Fahrt mußte in einem unvorstellbar stinkenden, mit betrunkenen Kerlen überfüllten Abteil angetreten werden. Ich versuchte die Schaffnerin zwar zu überreden, ein Plätzchen in einem anderen Abteil zu finden, aber ohne Erfolg.
    Während des Wartens auf den Tag der Entlassung gab es viel Zeit. In dieser Zeit hatte ich alles sorgfältig geplant. Die Herren im KGB-Büro hoffen vielleicht, daß ich ihnen geistig und physisch gebrochen unter die Augen trete, aber das wird nie geschehen!
    Um jedoch gut aussehen zu können, waren Mittel notwendig. Deshalb schrieb ich zwei Monate zuvor an meine Mutter und bat sie, mir 400 Rubel zu leihen, rückzahlbar innerhalb eines Jahres. In Geldangelegenheiten herrschte zwischen uns beiden stets ein solides Verhältnis. Ich erhielt den Kredit rechtzeitig.
    Mit der Bahn fuhr ich bis Moskau. Dort schlüpfte ich bei Olga Wsewolodowna Ivinska unter, der Lara aus Boris Pasternaks „Dr. Schiwago”. Sie nahm mich sehr herzlich auf, obgleich die Armut aus allen Ecken hervorlugte. An Gesprächsstoff fehlte es uns nicht; wir unterhielten uns sowohl über das Lager als auch über das Leben danach. Sie zeigte mir Fotos von Pasternak und erzählte vieles, worüber man im Lager nicht zu sprechen pflegt.
    Am Tag eilte ich voller Ungeduld in die Geschäfte, um meinen Plan in die Tat umzusetzen. Ich kaufte dunkelgrüne Wildlederpumps mit braunen Schlangenlederapplikationen und sehr hohen Absätzen. In anderen Läden fand ich ein märchenhaft schönes, in Deutschland hergestelltes Kleid und eine elegante Handtasche aus echtem Leder im Kroko-Look. Dann ging ich in ein gutes Restaurant in der ulica Gorkij. Dort bestellte ich ein Kalbskotelett und eine Zitrone, in Scheiben geschnitten und mit Zucker bestreut. Über die Zitrone machte ich mich zuerst her. Zwei Russinnen, die vom Nachbartisch aus beobachteten, wie eine ganze Zitrone Scheibe um Scheibe innerhalb einer Minute in meinem Mund verschwand, kamen aus dem Staunen und Grimassenschneiden gar nicht mehr heraus. Mit dem Kotelett ging es nicht ganz so leicht – obgleich das Fleisch zart und schmackhaft war, wollte es nicht in meinen geschrumpften Magen hineinpassen.
    Gut gesättigt machte ich mich auf, meinen letzten geplanten Kauf zu tätigen: ich erwarb ein Flugticket nach Riga, die gültige Bahnfahrkarte jedoch ließ ich genüßlich in einen Papierkorb segeln.
    Und so traf ich schließlich auf dem Rigaer Flughafen ein: gut gekleidet und in der Hand meinen schönen Lederkoffer, der mich als treuer Freund in alle Gefängnisse begleitet hatte, und den bunte Hotelaufkleber schmückten. Mancher wird sich vielleicht wirklich gedacht haben, daß ich aus Italien angereist kam, denn ein Aufkleber in den italienischen Nationalfarben prangte genau in der Mitte.
    Tatsache war jedoch, daß ich aus einem mordowischen Straflager in Riga eintraf und niemand auf mich wartete.
    Wohin nun? Wen sollte ich um ein Nachtquartier bitten? Kein Hotel würde mich mit einem im Gefängnis ausgestellten Paß über die Schwelle lassen. Eigentlich hätte ich zu meinem Vater auf den Friedhof gehen müssen, aber schließlich wußte ich nicht, wo genau sich sein Grab befand. [...]

Aus dem Lettischen von Matthias Knoll


Sie können die Übersetzung dieses Werks fördern.
Konzept Übersetzungsförderung   |   Sponsoren-Formular


Das lettische Original ist noch unveröffentlicht.

© der deutschen Übersetzung M. Knoll
Gesamtumfang: ca. 120 Normseiten
Umfang der Leseprobe: 3.400 Zeichen (ca. 1%)

www.literatur.lv