Inga Âbele

Die dunklen Hirsche

Drama in einem Aufzug


Die Aufführungsrechte liegen beim Kaiserverlag (Wien)



Personen:

Ria Alster
Nadine Alster
Alf Alster
Opa
August Drannberg
Leon

 

 


Leseprobe: S. 4/5

Nachmittag. Wohnküche des Bauernhofs „Tau Panemunne”. [...] Alf Alster tritt ein, erschöpft und mit durchweichten Stiefeln.

Alf: Guten Tag miteinander.

Er reicht seinem Vater die Hand.

Opa: Von gut kann kaum die Rede sein.
Alf: Geh’ den Männern zur Hand, sie sind steckengeblieben.
Opa: Ach, und wo?
Alf: Bei den Weiden unten.
Opa: Ich hab’ doch gesagt, daß da noch eine Lage Schotter drauf muß!
Alf: Red’ nicht lange, geh’ und hilf!
Opa: Nichtsnutze. Professoren. Was hat so was auf dem Land zu suchen?

Opa nimmt zornig Huhn und Kaninchen vom Tisch und geht hinaus. Nadine erhebt sich von dem Hauklotz. Alf reicht ihr die Hand und küßt sie auf die Wange.

Alf: Grüß dich! Na, wie ging’s euch so?
Nadine: Schlecht... ohne dich...
Alf (unterbricht sie): Es reicht, danke! Kaum, daß ich zur Tür rein bin, daß auch schon zwei über mich herfallen!
Nadine: Bin ich denn über dich hergefallen, Schätzchen? Ich wollte nur erzählen.
Alf: Laß es bleiben.

Alf läßt sich erschöpft auf das Sofa fallen. Nadine nimmt ihrem Mann den nassen Mantel ab und zieht ihm die Stiefel aus, die sie auf den Ofen stellt.

Nadine: Ein Lastwagen?
Alf: Ja. Ist ordentlich steckengeblieben... Leon ist kurz davor, in die Luft zu gehen... Aah, und die Socken, die Socken...
Nadine: Schreck laß nach, wie deine Socken aussehen! Und die Hirsche... wo willst du die...?
Alf: Schon wieder Schotter aufschütten... Du kannst rankarren, so viel du willst, der Schlamm kriecht doch bis zur Türe rein.
Nadine: Wo willst du die Hirsche...?
Alf: Die Hirsche, die Hirsche! Na, wo schon! Hier, wo denn sonst.
Nadine: Das geht nicht hier!
Alf: Warum?
Nadine: Ria ist zuhause. Ist in den Wald mit dem Hund.
Alf: Ria? Nicht in der Schule?
Nadine: Mir war nicht gut heute morgen, sie wollte bleiben.
Alf: Na prima. Dann wird sie ja wieder die ganze Woche nicht gehen, wenn so der Montag anfängt.
Nadine: Sie hat morgen Geburtstag.
Alf: Wirklich?
Nadine: Vierzehnter Oktober.
Alf: Sieh mal nach, wer da angefahren kommt.
Nadine (sieht aus dem Fenster): Leon beim Stall. Wie viele Arbeiter hat er denn da?
Alf: Drei. Such mir die Lieferscheine raus. Und mach’ mir’n Kaffee, bitte. Wenn du kannst.
Nadine: Ja... Aber die Hirsche müßten irgendwie anders...
Alf: Und wie? Leon mit der Post schicken?

Opa kommt herein. Nadine füllt einen Elektrokocher mit Wasser und geht ins Hinterzimmer.

Opa: Sie sind von alleine rausgekommen. Stimmt das, was Leon von den Hirschen sagt?
Alf: Leon nimmt die Hirsche mit.

Opa setzt sich auf einen Stuhl.

Alf: Alle. Ist doch Wurscht. Ich stell’ ’ne Gattersäge in die Scheune, Leon hat die Eichen vom Nachbarhof gekriegt.
Opa: Alle weg! Und was ist mit meinem und Ännchens Geld? Den letzten Santim haben wir dir gegeben!
Alf: Schrei jetzt nicht rum, was nützt denn das Schreien. Leon zahlt einen guten Preis. Hier, als Anzahlung.
Opa: Wir haben dir die Hirsche hochgepäppelt, und was hat man davon? Was hat man davon, wenn einer hohe Schule hat, aber keinen Verstand? So viel Geld zum Fenster rausgeworfen - die dunklen Hirsche, die dunklen Hirsche - und jetzt? Pfutsch... Ich hab kein Geld zum Pflügen. Hättest wenigstens was sagen können.
Alf: Damit du nachts nicht mehr schlafen kannst? Ich hab’s Nadja gesagt. Nadja, das Wasser kocht!
Opa: Die olle Russin - die liegt doch immer öfter krank im Bett, was sagst du ihr das, als ob die was vom Wirtschaften versteht. Abendessen muß jetzt auch für einen ganzen Haufen gemacht werden. Was nicht allein schon dieser Leon verdrücken kann.
Alf: Was für ein Haufen? Sie fahren zurück. Leon hat einen Platz, wo er sie abhängen lassen kann.
Opa (erhebt sich): Na ja, was getan werden muß, muß getan werden. Aber über eins sei dir im klaren, daß dieser Weg nicht mehr befahrbar ist... Hier wird es genauso wenig geben, wie es gab und gibt...

Opa geht hinaus. Nadine kommt aus dem Hinterzimmer und macht Alf einen Kaffee. Alf sitzt auf dem Sofa und sieht Lieferscheine durch. Völlig aufgebracht stürzt Ria herein.

Ria: Nadja, wo ist Vater?

Nadine tritt zurück und weist auf Alf.

Ria: Sie treiben die Hirsche in der kleinen Koppel zusammen!
Alf: Was mischst du dich da ein? Hast du heute schon Klavier geübt?
Nadine: Das Mädel ist erschrocken. Komm, Schätzchen, gehen wir nach nebenan sprechen.
Alf: Geh’ Klavier üben.
Ria: Daraus wird nichts, wie du dir das vorgestellt hast!
Nadine: Alf, nicht doch...
Ria: Nein, soll er es sagen!
Alf: Hör auf, Nadja, was ist nur für eine Memme aus ihr geworden. Ria, komm her!

Ria kommt langsam näher. Ihr Vater versucht, sie bei der Hand zu nehmen.

Alf: Ria, wir können sie doch nicht nur wegen ihrer Schönheit behalten. Dann sitzen wir selber vor leeren Schüsseln.
Ria: Aber ein paar könnten doch bleiben. Timor und Madja... und Džamma.
Alf: Hörst du überhaupt, was ich sage? Redest und redest…

Ria läuft fort. Nadine will ihr nacheilen, doch Alf hält sie zurück.

Alf: Laß das, Nadja. Sie wird schon zurückkommen, wenn sie sich ausgetobt hat.

Nadine will gehen.

Alf: Komm her zu mir, Nadine! Beruhige dich.

Er legt Nadine auf das Sofa und küßt sie.

Nadine: Jetzt nicht, Alf, mir ist heute wirklich nicht gut.
Alf: Du hast mir gefehlt, wir haben uns so lange nicht gesehen.
Nadine: Aber ich kann nicht!
Alf: Ja, ja, schon wieder, natürlich!

Die Haustür fällt ins Schloß. Sie setzen sich aufrecht auf die Sofakante. Opa tritt ein.

Opa: Geh’ und sammel’ deine Tochter ein, Großgrundbesitzer! Ist völlig verrückt geworden und läßt uns das Vieh nicht schlachten.
Alf: Sag’, sie soll reinkommen.

Nadine steht auf.

Opa: Wir sind schon beim Treiben, aber sie wie eine Klette mittenmang. Verliert völlig den Verstand, wie ihre Mutter.
Alf: Gib doch endlich einmal Frieden, du weißt wohl wirklich nicht, was du sagst. Nadja, bleib hier!

Nadine geht.

Opa: Wärst mal besser selber gegangen, weißt doch, wie das mit der alten Russin ist - fängt bei der kleinsten Kleinigkeit an zu flennen.
Alf: Ich bin eben zur Tür rein, die Knochen tun mir weh, also laß mich wenigstens kurz was Warmes trinken!
Opa: Hast du etwa auch Halsweh? Er sucht etwas auf der Anrichte. Hier, gieß ’n Schluck Schnaps in den Kaffee. Du achtest überhaupt nicht auf dich, rennst halbnackt in der Stadt rum und fängst dir sämtliche Krankheiten ein.
Alf: Nun hör’ doch endlich auf, mich zu bevormunden. Mir reicht’s mit euch allen - was man auch macht, immer nur Probleme.
Opa: Ach, dir reicht’s! Sieh mal einer an! Hier herrscht einfah keine Ordnung. Trink aus.

Beide gehen hinaus. Kurz darauf tritt August Drannberg mit einer Reisetasche ein und betrachtet seine Hosenbeine.

August: To make a dash against the enemy! Ist hier jemand? Hello? Buenas noches? …

Er stellt die Tasche ab und betastet prüfend den Ofen.

[...]

1999
Aus dem Lettischen von Matthias Knoll






Originaltitel: Tumðie brieþi
erschienen in Karogs Nr. 1/2000
Uraufführung: 15. September 2001 (Jaunais Rîgas teâtris)
Deutsche Erstaufführung: 11. Januar 2002 (Staatstheater Stuttgart)

Gesamtumfang der Übersetzung: 68.000 Zeichen / 38 Normseiten
Umfang der Leseprobe: 6.681 Zeichen (10%)

© Österreichischer Bühnenverlag Kaiser & Co. GmbH
Am Gestade 5/2 • A-1010 Wien • Tel.: +43-1-535 52 22
Fax: +43-1-535 39 15 • E-Mail: office@kaiserverlag.at
Alle Rechte vorbehalten